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Es ist schon drei und Mama ist immer noch nicht da. Carmen, die Erzieherin mit den kurzen, schwarzen Haaren sabbelt irgendein Zeug, das er nicht versteht. Er kriegt bloß mit, dass sie ihn beruhigen will, wo es nichts zu beruhigen gibt. Mama kommt nicht, und das heißt Alarmstufe Rot. Also doch der Eichhörnchenweg. Doch wie soll er das anstellen? Carmen sieht jeden seiner Schritte. Bei nur noch zehn Kindern ist das auch kein Wunder. Carmen will bestimmt auch nach Hause. Sie hat bestimmt auch keinen Bock mehr auf den Mist hier. Er könnte mit ihr gehen.

Bei Carmen zu Hause ist es bestimmt toll. Sie riecht so gut nach Rosen und Zitrone. Bei ihr stapeln sich in der Küche bestimmt keine stinkenden Mülltüten. Bestimmt hat sie eine Katze. Schwarz und weiß. Flecken auf dem Rücken. Sie schnurrt, wenn man ihr mit der Hand über den Rücken streicht und guckt freundlich. Nicht wie Rambo, Papas zauseliger Kater. Ronny schätzt sein Alter auf hundert, wenn nicht zweihundert. Ein Ohr ist eingerissen. Auf dem linken Auge ist er blind. Rambo humpelt. Ihm fehlt ein Eckzahn und er stinkt aus dem Maul. Papa macht es Spaß, Rambo mit der Fußballtröte zu erschrecken. Dann springt Rambo in die Luft. Manchmal kriecht er unters Sofa oder krallt sich in Ronnys Beinen fest. Die blutigen Kratzer schmerzen noch nach Tagen und Carmen fragt am nächsten, was zu Hause losgewesen ist.

Jetzt wird Ruven abgeholt. Sein Vater ist groß, er geht fast bis zur Decke. Ronnys Papa ist klein. Seine Mutter sagt immer Alkizwerg zu ihm. Alkizwerg, nimm die Füße vom Sofa! Alkizwerg, zieh dir mal 'ne Hose an! Wechsele die Unterhose! Sauf nicht so viel!

Ruvens Papa trägt einen Bart unter der Nase. So einen buschigen. Das sieht freundlich aus. Genau wie seine Augen. Die lachen richtig mit, wenn er sich freut. Er nimmt Ruven auf den Arm und gibt ihm einen Schmatzer auf die Wange. Na, mein Großer! Alles klar? Schmatzer kriegt Ronny kaum, und wenn, dann nur von Tante Rosi, und die kommt bloß alle paar Jahre zu Besuch. Von Mama gibt es bloß Watschen auf die Wange, sonst nichts. Eine richtige Hornhaut hat er schon im Gesicht. Irgendwann sieht er aus wie eine ledrige Eidechse! Da ist sich Ronny ganz sicher.

Die Eltern von Susanne kommen. Beide tragen schwere Einkaufstaschen. Susanne wohnt nur drei Häuser neben dem Kindergarten. Ronny versteht nicht, weshalb Susanne in den Kindergarten gehen muss, sie kann doch auch zu Hause bleiben und Carmen guckt ab und zu mal die Straße runter, ob bei Susanne alles in Ordnung ist. Susanne braucht immer eine Ewigkeit bis sie geht, weil sie ihren Eltern immer so viel erzählt. Vom Frühstück, vom Singkreis, vom Turnen in der Halle, vom Milchreis mit Kirschen, den es mittags gab und von Ruven, der sich beim Puzzlen in die Hose gekackt hat, ohne es zu merken.

Die Zeiger auf der Wanduhr wandern weiter. Einmal ganz rum. Jetzt sind nur noch Paul und er in der Gruppe. Ronny merkt, dass Carmen müde ist. Oder ist sie traurig? Sie denkt nach, guckt immer wieder nach draußen, dorthin, wo die Wiese ist, der Zaun, die Schaukeln, die der Wind so lustig wackeln lässt. Es hat angefangen, zu regnen. Dicke Tropfen laufen an den Fensterscheiben herunter, und immer treffen sie sich irgendwo, wo sie zu größeren Tropfen werden. Ronny meint zu hören, wie sie sich etwas zurufen. He, holla, hier komme ich! Platz da, oder wir fließen zusammen, werden größer und schwerer. Manchmal denkt Ronny, dass es den Regentropfen an der Scheibe besser geht als ihm. Die warten nicht auf ihre Mutter. Haben Regentropfen überhaupt eine Mutter?

Da ist Pauls Mama. Paul springt von seinem Puzzle auf und rennt ihr entgegen. Nicht so stürmisch! Pauls Mutter hält schützend ihre Hände vor ihren Bauch. Sie beugt sich herunter und küsst Paul auf die Stirn. Was macht Dodo, geht es ihm gut? Paul zeigt auf den Bauch seiner Mutter, der wirklich dick ist. Als hätte sie einen dieser Hüpfbälle unter dem Kleid, auf denen sie in der Turnhalle immer herumspringen dürfen. Was da wohl rauskommt? Ein Mädchen, oder ein Junge? Paul puhlt sich die Hausschuhe von den Füßen und krabbelt in die Straßenschuhe. Seine Mutter hilft ihm in den Anorak. Sie winken Carmen zu. Sie winken auch Ronny.

Jetzt ist er mit Carmen allein in der Gruppe. Die Uhrzeiger stehen komisch. So hat er sie hier im Kindergarten noch nie gesehen. Draußen ist es auch dunkler als sonst. Wo ist seine Mutter? Weshalb kommt sie nicht? Ronny spürt, wie sich sein Körper in den eines Eichhörnchens verwandeln möchte. Wie er herausspringen will in den Garten, ins nasse Gras und von dort auf den Baum und über den Zaun springen will. Er bekommt feuchte Augen. Sie brennen. Wie der Zigarettenqualm, den Papa ihm immer ins Gesicht bläst. Auch in ihm drin brennt es. Ganz tief drinnen. So ein Feuer, heiß wie tausend Vulkane. Das kennt er schon. Manchmal kann er deshalb nicht schlafen. Dann will er er am liebsten in die Badewanne steigen und sich mit kaltem Wasser übergießen. Das macht er aber nicht. Weil er Angst hat. Vor Mama. Vor Papa. Der Vulkan erlischt irgendwann auch von alleine.

Carmen will nach Hause. Draußen wird es dunkel. Jetzt ist die Kacke richtig am dampfen!

Wo bleibt Mama?

RONNYWo Geschichten leben. Entdecke jetzt