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Kian schluckte schwer, derweil sein Herz sich nicht entscheiden konnte, ob es stehen bleiben, oder ihm aus der Brust springen wollte. War er allen Ernstes so in Gedanken gewesen?
Normalerweise hatte er ein überempfindliches Gespür dafür, sobald sich ihm jemand näherte, oder was um ihn herum geschah. Es war wie ein Ausgleich zu seinem fehlenden Geruchssinn.
Kian schloss für eine Sekunde seine Augen, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, sich zu beruhigen. Was ihm eher schlecht als recht gelang. Der Hufauskratzer war ihm vor Schreck längst aus der Hand gefallen und verursachte in diesem Moment das letzte in der Stille hallende Geräusch, als er auf dem kalten Betonboden zum Liegen kam.
Der Typ, dem er sich gegenüber sah, war definitiv ein Alpha. Einer, der ihn über alle Maßen erschreckt hatte. Und das sicher nicht einmal mit Absicht, so reuevoll wie der Mann ihn in diesem Augenblick absah.
„Gott!“, Kian biss sich auf sein atemloses Gemurmel hin auf seine Unterlippe. Sein pochendes Herz weigerte sich vehement, sich zu beruhigen. Ein Geruchssinn würde oft vieles erleichtern. Die ganzen unangenehmen Gerüche einmal ausgenommen.
Er konnte sich nur zu gut an den beißenden Gestank von Schweiß und andere Düfte erinnern, die er nun ganz froh war, nach dem Autounfall vor etlichen Jahren, nicht beständig in der Nase haben zu müssen. Vor allem da der Geruchsinn eines Wolfswandlers um ein Vielfaches feiner war als der eines normalen Menschen. Obwohl sein Verlust auch nicht gänzlich ungefährlich war, da dieser quasi mit seinem Geschmackssinn einherging. Was so viel bedeutet wie, er konnte Süßes nicht einmal mehr von etwas Saurem unterscheiden ... oder schmeckte heraus, wann irgendetwas verdorben war.
Weshalb Essen zu sich zu nehmen, für ihn auch nur noch einer Notwendigkeit gleich kam und nicht mehr mit Genuss oder Freude einherging.
Doch er hatte sich daran gewöhnt. Nicht, dass es ihn davon abhielt, ihn sich dennoch ab und an zurückzuwünschen, obwohl er wusste, dass dies nicht geschehen würde. Zumindest hatten ihm die Ärzte nicht den Hauch einer Hoffnung gelassen. Er konnte faktisch nur froh sein, dass die Kopfverletzung, die er damals davon trug, nur diese Folgen nach sich gezogen hatte.

„Nein - Jayden.“
„Wie bitte?“, Kians Stimme klang alles andere als gefasst und selbstbewusst, wofür er sich am liebsten geohrfeigt hätte, doch es spiegelte nun einmal genau seine Gemütsverfassung wieder.
Halt ... warte ... Jayden?! Kian schluckte schwer, als ihm die Worte des Rudelalpha wieder in den Sinn kamen. Doch nicht etwa der Jayden-.
Na immerhin war ihm nicht ein völlig plumpes ‚was‘ herausgerutscht.
Die Augen des Omega weiteten sich, derweil er das Erscheinungsbild seines Gegenübers in sich aufnahm.
Eine diamantförmige, kantige Gesichtsform. Hohe Wangenknochen. Ein, wenn überhaupt, zwei Tage Bart, samt einem äußerst kurzen, ordentlich getrimmten Oberlippenbart. Die rabenschwarzen Haare des deutlich größeren Mannes waren an den Seiten kurz und oben länger gehalten damit sie problemlos mit Gel gestylt werden konnten – wie in diesem Augenblick. Zudem zeichnete sich ein durchtrainierter, muskulöser und mit Tattoos bedeckter Oberkörper unter dem engen T-Shirt ab. Zumindest soweit Kian das von der Stelle aus beurteilen konnte, an der er stand. Es war genau das richtige Maß, um nicht künstlich, übertrieben oder aufgepumpt zu wirken, so als würde er jeden Tag in einem Fitnessstudio Gewichte stemmen.
Der Kerl war zweifelsohne verdammt heiß und genau der Typ Mann, dem er ansonsten in einem unbeobachteten Momente hinterher geschmachtet hätte. Was es nicht besser machte. Nicht im Geringsten.
Und dieser Jayden sollte erst sechsundzwanzig sein?
Er sah definitiv etwas älter aus. Reifer. Auf eine positive Weise - Erwachsen ... und dennoch nicht alt in dem Sinne. Ganz so, als hätte er längst genug Verantwortung zu tragen und dessen Flausen im Kopf über die Jahre etwas nachgelassen. Sein gesamtes Erscheinungsbild passte perfekt zusammen. Schrie praktisch nach dominantem Alpha. Doch diese offene Haltung, das Lächeln in Verbindung mit der samtig weichen Stimme ließen ihn charmant wirken.
Hatte er, wenn auch nur sich selbst gegenüber schon mal erwähnt, dass es das keineswegs besser machte. Als hätte er sich nicht genau so jemanden als Gefährten gewünscht! Zumindest wenn der Charakter ebenso ansprechend war, wie das Äußere. Fürsorglich, liebevoll - dennoch beschützend und besitzergreifend. Jemand, der ihn auf eine entzückende herzerwärmende Art nur für sich haben wollte. Ein Fels in der Brandung, der ihm ganz allein gehörte. Der so benötigte Anker in seinem Leben auf den er sich immer verlassen konnte.
Quasi das genaue Gegenteil seines ihm vorherbestimmten Gefährten.
Warum nur hatte die Mondgöttin besiegelt, dass er an Leons Seite gehörte. Das war alles andere als fair.
Und da waren sie wieder ... seine schrecklich deprimierenden Gedanken.
Der Omega versuchte die Träne wegzublinzeln und wandte seinen Blick ab. Wie so oft in letzter Zeit wurde ihm alles zu viel. Irgendwie. Wenn es auch längst nicht mehr so schlimm war.

Kian atmete einmal tief durch und straffte seine Schultern. Das lag in der Vergangenheit. Jetzt hieß es nach vorne blicken und das Beste aus seinem Leben machen. Als eben jener Blick auf den Kopf des Hengstes fiel, den dieser in diesem Augenblick entspannt hängen ließ und ein Schnauben von sich gab.
Kians Augen weiteten sich, als ihm siedend heiß einfiel, wessen Pferd er da eigentlich gerade vor sich hatte und zupfte mit seinen Zähnen an seiner Unterlippe. Nur Sekunden, bevor sein Blick zurück in Richtung des älteren Wandlers flog, dessen vor Erheiterung funkelnden Augen auf ihm ruhten.
Der Mann hatte ihn die gesamte Zeit über offenkundig gut gelaunt beobachtet.
Zum einen wäre das jetzt eine herrliche Vorlage, um zu schmollen. Zum anderen – hieß das, es machte dem Alpha nichts aus, dass er ungefragt sein Pferd aus dem Stall geholt hatte? Zwar hatte er die Erlaubnis des Rudeloberhauptes ... von Jaydens Vater. Doch das musste ja nicht zwangsläufig bedeuten, dass der jüngere Alpha damit einverstanden war.

Bevor es allerdings auch nur ein Ton über seine erschreckend trockenen Lippen schaffte, löste schon die angenehme Stimme des Älteren die unangenehm werdende Stille zwischen ihnen auf, in welcher das Amüsement unterschwellig mitklang.
„Ich sehe, du hast die richtigen Schlüsse gezogen.“ Jaydens Lippen umspielte weiterhin dieses sündhafte kleine Lächeln. „Mein Vater hat zwar erzählt, dass ein alter Freund von ihm mit seiner Familie ab jetzt hier bei uns leben wird. Doch ganz offensichtlich hat er ein paar sehr interessante Details vergessen zu erwähnen. Darf ich wissen wie du heißt?“

Nein, da war eindeutig keine Verärgerung in der Stimme des Alpha herauszuhören, was Kian einen Großteil seiner Anspannung nahm und ihm zeitgleich ein winziges, aber aufrichtiges Lächeln ins Gesicht zauberte.
„Kian.“, Kian räusperte sich. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich Ikarus geputzt habe?“

*

„-Kian.“ Ohne dass das freudige Leuchten aus Jaydens Blick verschwand, stieß sich der Alpha ab und lief mit langsamen gleichmäßigen Schritten auf den Hengst und Kian zu, ohne diesen aus den Augen zu lassen.
Er konnte das aufgeregte Herzklopfen des Jüngeren dank seinen Wandlergenen nur zu deutlich hören.
Wie ein verschrecktes Rehkitz.
Ein bezauberndes, verführerisch nach Wildblumen, Jasmin und einem Hauch Vanille duftendes Rehkitz, das mit großen Augen zu ihm aufsah. Ein angenehm weicher Duft, der ihn sofort fesselte und sein eigenes Herz höher schlagen ließ, jetzt, wo er diesen dank der Nähe noch weitaus besser wahrnehmen konnte. Was ihn jedoch nicht daran hinderte, die beinah vollkommen fehlenden Pheromone zu bemerken. In Kians Fall, die süßliche Note eines jeden Omega, die sich wiederum mit dem gänzlich ureigenen Aroma vermischte, was ihn etwas irritierte. Er war da. Dieser unverwechselbare Geruch, der ein jedem Wandler das Wissen vermittelte, mit wem er es zutun hatte. Kian war auf jeden Fall ein Omega. Das konnte er trotz allem genau bestimmen. Doch die abgesonderten Pheromone waren bei weitem nicht in einem solchen Maß vorhanden wie bei den anderen Omega, die er kennengelernt hatte.
Und dennoch schnurrte der Wolf in ihm wie eine zufriedene Katze im Schein der warmen Sonnenstrahlen. Brummte glücklich, allein bei dem Anblick der großen runden grünen Augen die auf ihm lagen und im angenehmen Licht des Stalls funkelten wie geschliffene Saphire. Als wüsste sein Wesen etwas, das er noch nicht mitbekommen hatte, wenn ihm auch nicht klar war, was das sein konnte. Gefährten waren sie jedenfalls nicht, da war er sich sicher – und dennoch benahm sich sein Wolf, als hätte er eben jenen gefunden.
Nein, das kleine Rehkitz war nicht sein Gefährte und doch konnte er das behagliche warme Gefühl nicht verhindern, dass seinen Körper durchströmte.
Der kleine süße Omega weckte ohne jeden Zweifel den Beschützerinstinkt in ihm – und nicht nur das.

Die Verwirrung über seine Gefühle beiseiteschiebend, wurde Jaydens Lächeln noch eine Spur breiter, währenddem seine Finger über das pechschwarze Fell seines Hengstes glitten. Sein Wolf wollte die Nähe des Jungen, er wollte sie auch. Warum auch immer ihn Kian so fesselte. Weshalb es ihnen also verwehren? Wenn sich sein zweites Wesen in Kians Nähe so merklich entspannte, ruhig wurde. Als wäre diese Unrast, mit der ein jeder ungebundene Alpha mit der Zeit kämpfen hatte, plötzlich verschwunden. Was normalerweise nur mit der Gefährtenbindung möglich war. Schließlich war der Gefährte mitunter genau dafür da ... er beruhigte allein durch seine bloße Anwesenheit den unruhigen Alphawolf. Brachte ihn zur Ruhe. Es war wie ein Sog, der ihn zu diesem Jungen hinzog. Warum also nicht dieses Geschenk annehmen? Auskosten, solange er durfte. Zumal Kian sich in seiner Nähe nicht unwohl zu fühlen schien.

The only one - Das Rudel von GoldenwoodWhere stories live. Discover now