In der Vergangenheit - Am frühen Morgen

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Verschlafen streiche ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich bin müde, ich will schlafen. Aber was ich noch mehr will, ist schreiben. Zum Glück ist Wochenende, sonst müsste ich bereits in der Schule sein.
Ich sitze an drei Polster gelehnt auf meinem Bett. Die Jalousien sind zu, trotzdem erfüllt die Sonne mein Zimmer mit Licht. Ich höre Krähen, die an unserem Haus vorbeiziehen. Ich höre die Müllabfuhr, die wahrscheinlich daran schuld ist, dass ich schon wach bin.
Über was wollte ich heute schreiben? Ach ja, über Freundschaft, genau. Clara und ich kennen uns schon seit dem Kindergarten - seit der Kindergrippe, um genau zu sein. Im Kindergarten waren wir in zwei verschiedenen Gruppen, besuchten uns aber täglich. Als wir dann in die Volksschule (Grundschule in Österreich) kamen, wollten wir unbedingt in die selbe Klasse. Und das klappte. Wir waren die Hasenklasse, jede Klasse hatte ein Tier zugeteilt. Es gab auch eine Hundeklasse (die hatten sogar echt zwei Hunde, die der Lehrerin gehörten).
Am ersten Schultag schließlich wollten Clara und ich selbstverständlich nebeneinander sitzen. Aber wo? Ganz vorne? In der Mitte? Oder doch besser hinten?
Wir konnten uns nicht entscheiden. So kam es, dass plötzlich nur noch einzelne Plätze neben anderen Kindern übrig waren! Wir umarmten uns fest, dann setzte ich mich neben einen fremden Jungen. Er war sehr kein und hatte eine Brille auf. Diese war viel zu groß für seinen Kopf, passte nicht zu seinen kleinen runden Augen.
"Hallo", sagte ich, "Ich heiße Paula. Und du?"
Der Junge schaute mich aus großen Augen an. "Max.", sagte er, "eigentlich Maximilian."
Ich nickte.
Nach und nach freundeten Max und ich uns immer besser miteinander an. Wir wurden unzertrennlich - beste Freunde. Natürlich gab es dann auch noch Clara. Durch Max hat sich nichts an unserer Freundschaft verändert - Meiner Meinung nach zumindest. Max war mein bester Freund und Clara meine beste Freundin - das war doch wohl okay?
Im Nachhinein betrachtet verstehe ich natürlich, dass sich Clara ausgeschlossen gefühlt haben muss. Mit wem hat sie am Anfang der Volksschulzeit alles gemacht, wenn ich es mit Max getan habe? Ich weiß es nicht.
Nach und nach jedoch entdeckte Clara eine andere beste Freundin. Anna. Clara und Anna waren unzertrennlich, meiner Meinung nach veränderte sich Clara dadurch ein wenig.
Also dachte ich mir: 'Clara hat eine neue beste Freundin, da brauche ich wohl auch jemanden.'
Ella war wohl die Freundin, mit der ich am Meisten gemeinsam machte. Das verfestigte sich mit der Zeit immer mehr und schließlich waren wir beste Freundinnen - 'offiziell' mindestens. Denn eigentlich hatte ich meine Meinung geändert. Meine Meinung, dass ich einen besten Freund und eine beste Freundin haben konnte. (Mittlerweile sehe ich das ganz anders, man braucht gar keinen besten Freund oder beste Freundin. Wichtig ist es nur, dass man wahre Freunde hat - egal ob mit der Bezeichnung 'beste')
Deswegen entschied ich mich in meinem Inneren dazu: Ella war nicht meine beste Freundin. Clara war nicht meine beste Freundin. Ich hatte keine beste Freundin. Es war Max, der mein bester Freund war, mit dem ich befreundet bleiben wollte, bis... bis an unser Lebensende, schätze ich.
Doch plötzlich passierte etwas Furchtbares. Eine Pandemie brach aus, eine schlimme Krankheit. Corona. Wir durften nicht in die Schule gehen. Wir durften keine Freude und Freundinnen treffen, die Spielplätze waren abgesperrt.
Zu diesem Zeitpunkt waren wir bereits in der vierten Klasse und Ella hatte schon ein Smartphone, ich ein Tastenhandy. Also telefonierten wir jeden Tag. Jeden. So bald es ging, trafen wir uns - selbstverständlich mit einem Meter Abstand.
Und Max? Er hatte kein Handy. (Das kann ich mir jetzt gar nicht vorstellen. Jetzt, wo Max die ganze Zeit am Handy ist.)
Also konnte ich nicht mit ihm telefonieren und habe mich nicht getroffen, weil.... warum eigentlich nicht?
Vielleicht dachte meine Mutter, wir sind nicht mehr befreundet oder so. Weil ich die ganze Zeit nur von Ella erzählt habe, alles mit ihr gemacht habe. Vielleicht haben unsere Eltern deshalb nichts für uns ausgemacht... und Max und ich haben uns wohl nicht eingemischt.
Als die Schule endlich wieder begann, wurden wir in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe war an Montag und Dienstag in der Schule, die andere Mittwoch und Donnerstag und am Freitag.... das weiß ich nicht mehr. Waren wir da alle zu Hause? Wahrscheinlich.
Jedenfalls war ich gemeinsam mit Ella, Clara und Anna in einer Gruppe, aber Max.... war in der Anderen.
Das blieb so bis ans Ende des Schuljahres. Am letzten Schultag sahen wir uns wieder. Ich hatte Max vermisst, doch schon jetzt hatte ich das Gefühl, dass er sich verändert hatte. Am Nachmittag war unsere ganze Klasse gemeinsam in einem großen Park - der zum Glück schon wieder offen hatte.
Dort unterhielt ich mich am Meisten mit Ella. Max spielte mit den anderen Jungen, obwohl er sich mit denen - glaube ich - gar nicht so gut verstand. Am Ende des Tages gab er mir seine Telefonnummer, wir wünschten uns schöne Sommerferien. Ihn und Clara würde ich im Gymnasium wiedersehen.
Ella nicht, doch das machte mir nichts aus. Denn Ella... es würde mir genügen, sie ab und zu zu treffen.
Der Sommer verging, wir kamen ins Gymnasium. Dort konnte man unser Volksschule-Erster Schultag-Problem nicht haben, denn es gab eine Sitzordnung. Ich saß neben Blair und freundete mich sofort mit ihr an. Sie liebte lesen, schrieb auch an einem Buch... sie war mir sofort sympathisch.
Clara saß neben Lara, Isabella und Vroni saßen zusammen. Und Max saß.... das weiß ich nicht mehr.
Nach und nach entwickelte Claras und meine Freundschaft sich wieder so, wie sie früher war. Wir wurden wieder beste Freundinnen.
Die Zeit verging schnell, bald waren wir in der 4. Klasse, wie man in Österreich sagt. In Deutschland wäre es die 8. Und da bin ich jetzt.
Bin ich noch mir Max befreundet? Ich weiß es nicht. Er ist anders geworden, hat sich komplett verändert. Daran ist wahrscheinlich unter anderem Martin schuld. Er.... hat einen sehr speziellen Charakter und Max hat sich wohl von ihm anstecken lassen, falls man das so ausdrücken kann. Doch nun ist er wieder dabei, so zu werden, wie er früher war. Ich kann meinen besten Freund in ihm erkennen.... manchmal. Doch dann scheint er sich wieder daran zu erinnern, wie er sein will. Lustig, cool... ich habe keine Ahnung, ob es das ist, was er denkt, dass er ist.
"Max.", sage ich dann mit wütender... und gleichzeitig trauriger Stimme, "Sei jetzt bitte normal!"
"Wie bin ich normal?", fragt Max dann, "Sag mir, wie ich sein soll."
Dann lächle ich und sage: "So wie du jetzt bist." Aber natürlich nur, wenn sein Tonfall gestimmt hat und er sich angehört hat... wie mein bester Freund, den ich so sehr vermisse. Sonst sage ich: "So wie du vor vier Jahren warst."
Dann verdreht Max die Augen, erklärt mir, dass er früher so war und sich verändert hat. Ja, er hat sich verändert. Eindeutig.
Aber nicht im positiven Sinne.

Ich blicke auf. Nun habe ich euch meine Vergangenheit erzählt, von meinen Freundschaften. Ich ziehe meinen Zopf zurecht und kratze mich an einer juckenden Stelle am Kopf.
"Paula!", ruft meine Mama, "Musst du nicht langsam los?"
Schnell werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr.
"Bald!", antworte ich.
Ich werde gleich mit Clara spazieren gehen, ihr dabei wahrscheinlich von der Movie Night erzählen. Obwohl, so viel gibt es nicht zu erzählen. Wir haben Fluch der Karibik geschaut, das war es auch schon. Aber vielleicht kann sie mir erzählen, was sie in Turnen gemacht haben. Oder... keine Ahnung. Jedenfalls sollte ich jetzt besser los, wir wollen doch wohl nicht, dass sie wütend auf mich ist, weil sie warten muss!

An den Grenzen der RealitätWo Geschichten leben. Entdecke jetzt