Kapitel 5 - Nervennahrung

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Die Ampel sprang auf Rot und ich musste anhalten. Wie fast jedes Mal an dieser Kreuzung. Die Phasen, in denen man fahren durfte, waren wirklich lächerlich kurz. Meine Finger trommelten nervös auf den Lederbezug des Lenkrades. Ich ärgerte mich noch immer über diese unverschämte Äußerung von Chase. Was nahm er sich heraus? Wie konnte er so etwas überhaupt nur denken?

Fahrig presste ich meine Fingerkuppe auf den Knopf des elektrischen Fensterhebers. Mit einem monotonen Geräusch fuhr die Scheibe hinunter. Sofort drang ein leichter Duft nach Honig ins Wageninnere, der von den zahlreichen Natternkopf-Büschen stammen musste, die man aus Dekorationszwecken entlang der Strandpromenade gepflanzt hatte. Ihre unzähligen blauen Blüten wirkten wie ein einziger satter, blauer Teppich, der einen hübschen Kontrast zum hellen Straßenbelag bildete.

Ein Phänomen in dem kleinen Ort Grover Beach war, dass man, egal auf welcher Straße man gerade fuhr, nach kürzester Zeit immer wieder auf die Price Street stieß, die parallel zum Highway 101 verlief und die einen direkten Ausblick auf den gewaltigen Pazifik bot.

Aber heute konnten mich selbst die träge anrollenden Wellen, die sonst immer eine beruhigende Wirkung auf mich ausübten, nicht milde stimmen.

Ein plötzlich aufheulender Motor und kreischendes Reifenquietschen störten meine zornigen Gedankengänge. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich einen dunklen Schatten und wandte genervt den Kopf zur entsprechenden Seite.

Neben mir hatte ein anthrazitfarbenes Mustang-Cabrio angehalten. Der Typ, der am Steuer saß, warf mir anzügliche Blicke zu. Mit einer übertriebenen Geste fuhr er sich durch sein schütteres Haar.

Ich hatte ja meine eigene Theorie zu Cabrio-Fahrern. Ungewöhnlich viele Männer, die einen dieser dicken Schlitten fuhren, hatten wenig bis gar keine Haare. Je größer und auffälliger der Wagen, desto Mitleid erregender die Frisur.

Und wenn nicht das fehlende Haar der Grund für die Kompensierung war, dann musste es an einer anderen Stelle hapern. 

Jetzt wackelte er auch noch mit den Augenbrauen. Blieb mir denn gar nichts erspart? Wahrscheinlich verpasste er mir gedanklich auch gerade das Drecksau-Prädikat.

Endlich schaltete die Ampel auf grün. Ich gab langsam Gas, während der Mustang neben mir nach vorne galoppierte. Amüsiert schüttelte ich den Kopf. Der Fahrer hatte ausgesehen wie Anfang Vierzig. Aber er benahm sich wie ein Zwölfjähriger.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, bog ich nach wenigen Metern rechts in eine kleinere Seitenstraße ein, anstatt auf der zweispurigen geradeaus weiter zu fahren. So wurde ich erstens den Typen los und konnte mir zweitens noch den Rest des Tages versüßen.

Ein kurzes Stück folgte ich der Straße, die ein Straßenschild als  Pomeroy Street auswies, bevor ich den weitläufigen Parkplatz des Outlet-Shopping Centers von Grover Beach erreichte. Rückwärts manövrierte ich meinen Wagen in eine Lücke zwischen einem alten, schäbigen Previa-Van und einem Mobilehome.

Die hellen, einstöckigen Gebäude der Shopping Mall waren hufeisenförmig auf einer Fläche von vielleicht zwei Hektar angeordnet und hatten für jeden Geschmack etwas anzubieten. Mein absoluter Lieblingsshop war das Casual Corner, in dem es - anders als der Name vermuten ließ - viele edle Kleider von namhaften Designern gab, aber natürlich auch Basics oder etwas für jeden Tag, casual eben.

Bei Pacsuns kaufte ich normalerweise meine Wäsche, aber das interessierte mich im Moment nicht. Stattdessen steuerte ich mein heutiges Objekt der Begierde an, die Rocky Mountain Chocolate Factory. Von Zeit zu Zeit brauchte ich einfach Schokolade. Und heute war es mal wieder so weit.

Für mich fing der Spaß schon allein mit dem Betreten dieses Shops an. Die unendliche Vielfalt der kreativen Delikatessen ließ das Herz eines jeden Süßigkeiten-Fans höher schlagen. Ein Glöckchen über der gläsernen Eingangstür kündigte neue Besucher und potentielle Kunden an. Stand man dann in der Mitte des Ladenraums, fiel der Blick unweigerlich auf eine gläserne Theke, in der Schokolade in allen Variationen angeboten wurde. Ich war mir sicher, hier konnte niemand vorbeigehen, ohne etwas zu kaufen. Also, ich jedenfalls nicht.

Und genau das hatte ich heute vor. Ich trat näher und inspizierte die Auswahl, bestehend aus verschiedenen Obstsorten, die mit dunkler oder heller Schokolade überzogen, und mit bunten Streuseln, winzigen Fondantherzen, roten Zuckersplittern oder Kokosflocken dekoriert waren.

Liebesäpfel, größer, und mit ihrer kirschroten Zuckerglasur wesentlich farbenprächtiger als die, die es hier auf dem Farmers Market gab, vervollständigten das Angebot der süßen Früchte und waren natürlich ein ganz besonderer Eye-Catcher.

Direkt neben diesen verführerischen Äpfeln lagen dachziegelartig angeordnete Schoko-Mandel-Toffees, alle denkbaren Cookie-Varianten und dicke Stücke von gebrochenem Karamell. Ganz zu schweigen von den Trüffeln, mit oder ohne Alkohol, weiß oder dunkel, in Geschenkboxen oder lose.

Der intensive Duft von Schokolade und gebrannten Mandeln ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Mein besonderes Interesse galt allerdings weder den Äpfeln noch den Toffees. Heute wollte ich Schokobananen. Die mit weißer Schokolade und roten Zuckersprenkeln lachte mich besonders an. Wobei die Vollmilchkreation mit gehackten Pistazien nicht weniger gut aussah. Ich ließ mir einfach beide Sorten einpacken und entschied mich noch für einen großen, hellen Macadamien-Nut-Cookie.

Wenn ich hier im Outlet-Center stoppte, konnte ich auch nie an einem Starbucks vorbeigehen, ohne mir eine dieser köstlichen Kaffeesorten zu gönnen. Der Coffeeshop lag etwas versteckt hinter einem großen Sportausstatter auf der anderen Seite des Gebäudekomplexes. Auf meinem Weg kam ich an einem Nagelstudio, an meinem geliebten Lingerie-Shop und an einer Buchhandlung vorbei. Ich schenkte der Schaufensterauslage zunächst keine Beachtung, nur flüchtig fiel mein Blick auf eines der Bücher, die ganz vorne ausgestellt waren. Irgendetwas daran erregte meine Aufmerksamkeit. Fast gegen meinen Willen stoppte ich, um mir den Einband genauer anzusehen.

Koma
ein ungewisser Zustand

lautete der Titel, geschrieben von einem gewissen Dr. Dominic Roth. Das Foto eines glatzköpfigen Mannes mit Brille füllte den Großteil des ansonsten schlicht gestalteten Covers aus.

Tragisch. Aber interessiert mich eigentlich gerade doch gar nicht.

Nachdenklich setzte ich meinen Weg zu Starbucks fort.

Ausnahmsweise war in dem kleinen Coffeeshop nicht viel los und es dauerte nicht allzu lange, bis ich an die Reihe kam. Ich bestellte einen Madagaskar Vanille Macchiato, wie immer decaf, weil ich das Koffein nicht vertrug. Mein Becher wurde mit Deckel und einem Papphalter versehen, damit ich ihn sicher im Auto transportieren konnte. Während ich zurück zu meinem Wagen lief, betrachtete ich mein Spiegelbild in den Schaufenstern. Mein Gott, ich war bepackt für zwei. Manchmal überkamen mich aber einfach solche Genießerattacken, denen ich dann besser auch nachgab, sonst wurde ich furchtbar unleidlich.

Als ich wenig später in unsere Straße einbog, streckte ich mich auf meinem Fahrersitz und versuchte durch die Frontscheibe auszumachen, ob Levys kleiner MG vielleicht doch auf dem Parkplatz vor unserem Appartement stand. Es hätte doch sein können, dass er es sich anders überlegt hatte und nun den Abend mit mir verbringen wollte. Aber der MG glänzte mit Abwesenheit. Ich kaute auf meiner Unterlippe, weil ich nicht genau wusste, wie ich das fand.

Nachdem ich den BMW abgestellt hatte, versuchte ich, möglichst ohne größere Verluste, meine Delikatessen in die Wohnung zu befördern. Die Tüte mit den Bananen balancierte ich geschickt auf dem Oberschenkel, während ich, den Kaffee in der linken,  mit der freien Hand die Wohnungstür aufschloss.

Drinnen war es still. Ich hatte, als ich zum Reiten gefahren war, vorsorglich alle Fenster geschlossen, so dass nicht mal das Gezwitscher der Vögel von draußen zu hören war. Eilig stellte ich den Kaffeebecher und die Papiertüte auf dem Telefontischchen ab und öffnete die Fenster im Wohnzimmer. Augenblicklich drangen die Geräusche des Sommers in die Wohnung. Ich hörte den heiseren Ruf eines Greifvogels und blickte durch meine ungeputzte Scheibe nach oben. Dort zog ein Fischadler seine Kreise. In der Ferne bellte ein Hund. So war es schon besser. Es machte mich immer ein bisschen nervös, wenn es so furchtbar geräuschlos war.

Entschlossen setzte ich mich an unseren kleinen Esszimmertisch, löste den Schutzdeckel vom Kaffeebecher und legte mir eine der Schokobananen auf den Teller.

„Gönn' Dir, Ava, dachte ich. Nervennahrung für nachher, wenn es Chase verbal an den Kragen geht.

Die Sanduhr der Träume Where stories live. Discover now