Du hast Zeit

432 30 3
                                    

"Hey, warte mal", ruft eine bekannte Stimme, als ich nach der letzten Stunde vom Schulfhof gehe, um in mein wohlverdientes Wochenende zu fliehen. Ich gehe noch einige Schritte bevor ich stehen bleibe. Er meint dich. Langsam wende ich mich zum Schultor zurück. Als ich den Blondschopf vor mir entdecke, fange ich an nervös an dem Trägergurt meines Rucksacks herum zu nesteln. Atme einfach weiterhin normal ein und aus. "Hast du dich doch dazu entschieden, stehen zu bleiben?", fragt Luca ein wenig außer Atem. Ist er nicht Handballer? Da muss er diese paar Meter doch aushalten. "Nein, meine innere Stimme hat mich dazu überredet", gebe ich unüberlegt von mir. Es sollte doch keiner von mir erfahren. Schief grinsend mustert er mich. "Hm, ja, manchmal denke ich auch ich hätte solche Eingebungen, aber dann sind es doch nur meine Teamkollegen, die mir zurufen wohin ich den Ball passen soll." Jetzt hält er dich für verrückt. "Du spielst Handball, nicht wahr?", frage ich. Mal wieder unüberlegt. Sein Gesicht erhellt sich. "Ja. Wieso fragst du?" Hektisch kratze ich mich mit meinem rechten Zeigefinger an meiner Nase. Höchstwahrscheinlich färben sich meine Wange gerade etwas rosa. "Äh, egal. Ist nicht so wichtig", winke ich ab, "was wolltest du eigentlich?" Mit leicht zusammen gezogenen Augenbrauen nickt Luca. "Ich hatte gehofft, du hast Zeit. Also jetzt?" Du hast Zeit! Ich habe Zeit? "Ich denke schon", stelle ich verunsichert fest. Wieder erhellt sich Lucas Gesicht und sein verschmitztes Lächeln kommt zum Vorschein. "Cool!" Nach einem irritierten Nicken meinerseits, fährt er fort. "Meine Deutschhausaufgaben müssen gemacht werden."
"So habe wir aber nicht gewettet." Warum redest du immer so ein gequirltes Zeug? "Ja, schon klar. Das kam jetzt etwas falsch rüber. Ich hab mich gefragt, ob du mit zu mir kommen willst und mir bei den Aufgaben hilfst. Also nur, wenn du willst. Wir können auch hier in der Schule bleiben oder bei dir lernen oder...", redet er an einem Stück bis ich ihn mit einem einfachen Nicken unterbreche. "Klar, ist schon okay."
Mein Dad ist wahrscheinlich eh noch nicht zu Hause. Es ist schließlich Freitag und das heißt für ihn endlos arbeiten, damit das Wochenende frei von Arbeit ist.

Ich staune nicht schlecht, als wir das Haus betreten. Es ist riesig. Größer als das der Lorenz', welches schon um einiges größer ist als das meines Dads. Von meinem Standpunkt aus nehme ich das große Wohnzimmer in Augenschein, von dem direkt die offene Küche und ein Esszimmer abgeht. "Bist du fest gewachsen?", holt mich Luca aus meiner Starre. "Ich..nein..ehm ich..also es nur so..das Haus es ist..wow..echt wow..", versuche ich einen anständigen Satz aus mir heraus zu bekommen. "Das sagen viele, aber wir müssen eh umziehen. Mein Vater hat irgendwelche Probleme an der Arbeit, aber mir erzählt hier keiner etwas." Mit einem Schulterzucken und Kopfnicken weist er mir an ihm zu folgen. "Und das erzählst du mir einfach so?", frage ich ihn auf dem Weg nach oben. "Wieso nicht? Ich habe irgendwie das Gefühl, dass du Sachen gut für dich behältst", entgegnet er mir erneut schulterzuckend. Joy, die Vertrauenswürdige. "Setz dich", fordert Luca mich auf und lässt sich selber auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Sein Zimmer ist ungewöhnlich ordentlich und sauber. "So habe ich mir dein Zimmer nicht vorgestellt", platzt es aus mir raus. "Du hast dir mein Zimmer vorgestellt?", schmunzelt er. "Eh, nein. Ich meine nur sind Jungszimmer nicht immer so unordentlich?" Schnell lasse ich mich in den gelben Sitzsack neben dem Schreibtisch fallen, der zwischen der grau-schwarzen Einrichtung ganz schön heraus sticht. "Wir haben eine Putzfrau", lacht er. Verwöhnter Schnösel. "Deine Lieblingsfarbe ist also gelb?", wechsel ich das Thema. Er nickt. "Schwer zu erraten, oder? Und deine?"
"Weiß nicht genau. Vielleicht braun oder grün. Hauptsache kein lila oder pink", grübel ich. Lächelnd betrachtet Luca mich. "Man merkt direkt, dass du andere Ansichten als die typischen Mädchen hast." War das jetzt gut oder schlecht? Ich lächel einfach zurück. "Wollen wir dann mit den Deutschhausaufgaben anfangen? Sonst bin ich umsonst hierher gekommen", frage ich nach und lasse meinen Blick über den riesigen Schreibtisch gleiten. "Umsonst bist du sicher nicht hierher gekommen", zwinkert er mir zu. Zerknirscht schaue ich wieder zu ihm. "Oh stimmt, ich gebe dir noch das Geld." Luca musste mir Geld für ein Busticket leihen, da ich mal wieder mein Portmonee Zuhause vergessen habe. "Lass stecken. Das meinte ich gar nicht", lacht er nun, "aber ein so nettes Gespräch mit mir kannst du doch nicht als Nichts bezeichnen." Lachend schüttel ich meinen Kopf und hüpfe auf den Schreibtisch. Wenn der dich mal aushält. "Okay, okay. Womit willst du beginnen?"

Tatsächlich hat es Luca geschafft eine ganz eigene Analyse zu verfassen. So eigen wie es bei diktierten Sätzen sein kann. Das waren alles nur Hilfestellungen. Ich schulter meinen Rucksack, während ich mich zur Haustür drehe. "Man sieht sich", verabschiedet sich Luca und öffnet ganz Gentleman like die Tür. "Bis Montag", gebe ich zurück. "Klar, ich freu mich." Er freut sich mich wieder zu sehen. Jetzt hyperventilier mal nicht. Mit einem letzten Lächeln wende ich mich zum Gehen und höre ein wenig später, wie sich die Tür schließt.

Distract me with your eyesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt