DARK MOON

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Komm doch einfach mit, hatte sie gesagt. Das wird bestimmt lustig, hatte sie gesagt. Du sitzt doch sowieso den ganzen Tag nur in deinem Zimmer und langweilst dich. Das ist überhaupt nicht gut für ein Mädchen in deinem Alter, nicht wahr Tom? Mit ihrem Engelsaugen hatte sie zu ihm hinüber geschaut und gelächelt, als wollte sie nur das Beste für mich. Aber Tom, ihr Freund und MEIN verdammter Bruder, hatte nur hilflos mit den Schultern gezuckt und gemeint: "Keine Ahnung. Ich bin kein Mädchen. Woher soll ich das wissen?" Daraufhin wurde ihr schmieriges Grinsen noch breiter und sie ergriff mit gehässig funkelnden Augen Tom's Hand. "Und genau deshalb hast du ja mich. Glaub mir, dass wird ihr gut tun. Wir bleiben auch nicht lange. Spätestens elf ist Feierabend. Versprochen." Was für ein widerliches Wesen ... Ab dem Zeitpunkt wusste ich, dass ich keine Wahl mehr hatte. Mit ihrer zuckersüßen Stimme hatte die Blondine meinen Bruder schon längst überzeugt. Trotzdem wollte ich noch nicht aufgeben. "Tom, wenn dass Mama und Papa erfahren, ..." Ich wurde mitten im Satz von einer energischen Tussigeste der Hexe unterbrochen. " ... dann werden sie uns dankbar sein, dass wir dich dazu gebracht haben, endlich mal wieder einen Schritt vor die Tür zu setzten!",  stellte sie mit ernster Miene fest, auch wenn ich mir nur zu gut vorstellen konnte, dass sie innerlich grinste wie ein verstrahltes Honigkuchenpferd. Noch ein verdammtes Wort und ich brech dir jeden einzelnen Knochen in deinem hübschen Barbiepuppenkörper! Na gut ... probieren wir es anders. "Okay ... du hast gewonnen. Ich komme mit. Aber wenn man mir k.o. Tropfen untermischt, mich vergewaltigt und mir am Ende die Kehle aufschlitzt und mich im nächstbesten Fluss entsorgt, hast du das zu verantworten!" Ich schob herausfordernd das Kinn nach vorn und starrte sie beschuldigend an. "Ach Süße, du brauchst doch keine Angst zu haben. Das ist ne Party von David, ja? Auf die Yacht seines Vaters lässt er sowieso nur Leute mit Manieren. Und außerdem sind wir ja auch da und passen auf dich auf." Na wie beruhigend. Als ob es noch nicht genug wäre, dass sie mich als sechszehnjähriges und (immer noch) jungfräuliches Mädchen auf eine Party zerrt, auf der es mehr sexgeile Typen von 18 bis 25 gibt als Luft zum Atmen da ist, aber nein. Jetzt bezeichnet sie diese sexgeilen Typen auch noch als Leute mit "Manieren" und versichert mir, sie würden auf mich aufpassen. Na klar. Soweit ich das aus einigen Unterhaltungen meines Bruders mit seinen Kumpels entnommen hatte, liefen die Parties bei den Beiden immer gleich ab. Begrüßen - voll laufen lassen - fi ... ähm ... ich meine, miteinander Liebe machen - am nächsten Nachmittag mit einem schrecklichen Kater aufwachen. Und ich bezweifelte, dass das diesmal sonderlich anders ablaufen wird. Naja. Auf jeden Fall hab ich mich dann meinem Schicksal ergeben und aufgehört, meinen Bruder und seiner kleinen Hexe mit meinen Argumenten, die am Ende sowieso dorthin zurück geprügelt wurden, wo sie her kamen, zu widersprechen. Und jetzt stand ich hier in einem viel zu kurzem, silbernem Kleid, dass mir das Miststück aufgedrückt hatte, nachdem sie mit einem hochroten Kopf meinen Kleiderschrank nach irgendeinem anderen Kleidungstück, als den gefühlt Millionen Hoodies, einigen schlichten Tops, ein paar Jeans und haufenweise Jogginghosen durchsucht und am Ende lediglich eine schwarze Lederjacke gefunden hatte, die ich an meinem fünfzehnten Geburtstag von meiner Cuisine geschenkt bekommen, aber seit dem kein einziges Mal getragen hatte, am Rand des städtischen Hafens und blickte mit einem unwohlen Gefühl auf die riesige Yacht. Ich wollte da nicht hin. Um keinen Preis der Welt. Ich wollte wieder in mein Zimmer zu dem Sherlock Holmes Band, den ich gestern angefangen hatte. Einfach aus der Welt der Reichen und Schönen verschwinden, mich eine weitere Nacht in mein Zimmer einschließen und den "Problemen" dort draußen entfliehen.  Das hier war nicht meine Welt. Und das würde sie auch niemals sein. "Helen? Kommst du endlich mit rein oder willst du den ganzen Abend da draußen rumstehen und aufs Meer starren?" Tom hatte sich über den Schiffsrumpf gelegt und schaute mich nun fragend mit seinen großen, grünen Augen an. Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er gesagt hatte, dann nickte ich langsam und schlich vorsichtig mit den ebenfalls von der Hexe geliehenen silbernen Absatzschuhen den Steg entlang. Als ich schließlich möglichst unauffällig an Bord schlich, kamen mir bereits mein Bruder und seine Freundin  entgegen. Letztere hatte drei Sektgläser mit dabei und reichte mit ihrem schmierigen Lächeln jedem von uns eins. "Alkohol?! Das ist doch wohl nicht dein Ernst?!", fragt ich geschockt und hielt das Glas so weit von mir weg, als wäre es mit einer Flüssigkeit befüllt, die einen bereits umbrachte, wenn man sie auch nur ansah. "Ach komm", antwortete die Hexe abwertend. "Jetzt tu doch nicht so, als ob du noch nie Alkohol getrunken hast. Außerdem ist es doch nur ein Gläschen. Komm schon. Sei kein Spielverderber. Lass uns lieber anstoßen. Auf uns. Und darauf, dass die kleine Helen endlich mal aus dem Haus kommt."
Also erstens, natürlich hatte ich schon mal Alkohol getrunken. Wer denn nicht. Aber das macht trotzdem einen großen Unterschied, ob ich Alkohol in Verbindung mit guten Freunden trank, von denen ich mir zumindest sicher sein konnte, dass sie mich nicht irgendwo in einer Absteige liegen lassen, oder halt mit Leuten, mit denen ich noch nie im Leben einen Blick, geschweige denn ein Wort gewechselt hatte.
Zweitens bleibt es dann meistens nicht nur bei einem süßen, winzigen Gläschen, sondern endet (bei nem ordentlichen Prozentsatz) in einer Sauforgie vom Feinsten. Und darauf hatte ich momentan keine wirkliche Lust.
Und drittens ... es gibt kein Drittens. "Du trägst die Verantwortung", flüsterte ich unhörbar und nahm ihr mit genervter Miene das Sektglas ab. Wieder setzte sie ihr unechtes Grinsen auf. "Prost!" Das war das Einzige was mein Bruder zu dieser Unterhaltung beitrug, dann schüttete er sich das Zeug mit einem Zug runter und zog seine Begleitung auf die Tanzfläche, wo sie heftig rum knutschten und sich nach einigen Minuten bereits halb ausgezogen hatten. Allein beim Zusehen wurde mir schon übel. Gelangweilt schaute ich auf mein Handy. 20:07. Ich seufzte. Vor um elf würde ich hier nicht wieder weg kommen. Widerwillig nippte ich an meinem Sektglas und zog mich in eine etwas verlassenere Ecke des Schiffs zurück. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, den Rest des Abends damit zu verbringen, auf das weite Meer hinaus zu starren. Zumindest musste ich Tom und der Hexe dann nicht bei ihrem Paarungstanz zuschauen. Eine wahre Erleichterung. Seufzend lehnte ich mich an das elegant geschwungene Geländer und strich mir die vom Wind zerzausten Haare hinters Ohr. 

"Tja Süße, tut mir echt leid, aber ich fürchte die Party ist für dich zu Ende. Gott hat nämlich eben angerufen und gesagt, er möchte unter alle Umständen seinen Engel zurück haben." Ein schlanker, junger Mann, den man bestimmt für ganz hübsch hätte einstufen können, wenn er nicht so stockbesoffen wäre, kam mit wackeligen Schritten auf mich zu und hob seine halbleere Bierflasche als eine Art Gruß. "Ich bin sechszehn", antwortete ich nur genervt, als er sich ganz selbstverständlich neben mir an das Geländer lehnte. "Freut mich Sechszehn. Ich bin Josh.", ungerührt streckte er mir seine verschwitze Hand entgegen. Ich ignorierte sie so gut es ging und drehte mich abweisend in Richtung Meer. Doch er ließ nicht locker. "Hey, ähm ... hast du dir eigentlich schon mal die Schlafräume hier angeguckt? Die sind echt edel. Wenn du willst, kann ich dich mal rumführen.", fuhr er seine Flirtparade fort und setzte dabei ein Lächeln auf, das noch ekelhafter war als das von der Hexe. Ich räusperte mich. "Nein danke. Aber du kannst ja mal meinen Bruder Tom fragen. Der müsste sich irgendwo auf dem Oberdeck herumtreiben." Am liebsten hätte ich noch ein "Und wenn ich schreie, hört der das auch" hinzugefügt, ließ es dann aber bleiben. Seltsamer Weise wurde sein Grinsen dabei noch breiter. "Ahhh ... du bist die kleine Schwester von Tom. Aber warum bist du mit hier? Sonst war er immer strickt dagegen dich mit auf eine unserer Parties zu nehmen." Mit einem Mal wirkte er komplett nüchtern und betrachtete mich aufmerksam mit seinen dunklen Augen. "Ich wär auch lieber nicht hier, aber (ich konnte mir gerade noch ein 'die Hexe' verkneifen) seine Freundin hat ihn überredet." Er schien meinem Gesichtsausdruck anzusehen, dass es momentan eine Millionen andere Plätze gab, an denen ich lieber war, denn er fing an zu lachen. "Du meinst Emily, die kleine Hexe? Ich versteh wirklich nicht, wie er es mit ihr aushält. So eine hinterlistige kleine Ratte." Allein durch diese Aussage konnte er mich noch zehnmal so dämlich anmachen und er würde mir trotzdem noch sympatisch bleiben. "Das kannst du laut sagen!", lachte ich und schüttete den verbliebenen Rest meines Sekts über Bord. 

Im selben Moment fingen auf dem Oberdeck einige Leute an zu jubeln und kamen grölend die Stufen hinunter. Ihnen voraus lief natürlich mein großer Bruder, der mittlerweile nur noch die stylische Badehose trug, die er zusammen mit etwas Unterwäsche von Mama zu Weihnachten bekommen hatte. Damals war er hochrot angelaufen, hatte das Zeug in seinen Schrank geworfen und geschworen, nie wieder ein Wort mit Mama zu wechseln. Man muss dazu sagen, dass eine der Unterhosen mit einem Herzchenmuster bestickt war und Tom und einige seiner Kumpels vor Weihnachten ausgemacht hatten, ihre ganze Geschenke bzw. das, was sie sich dafür gekauft hatten, auf Instagram zu stellen. Peinlich für Tom, lustig für alle anderen. Auch wenn ich bis heute glaubte, dass Mama das damals mit Absicht gemacht hat. "Und was genau soll das da jetzt werden?", wurde ich von Josh aus meinen Gedanken gerissen und konzentrierte mich wieder auf das, was da vor mir passierte. Mein Brüderchen war mittlerweile damit beschäftigt auf das schmale Geländer zu klettern. 'Wenn er von Bord fällt, lach ich.' Doch genau das schien er vor zu haben. Wackelig richtete er sich auf dem Geländer auf, zog seinen nicht vorhandenen Hut und ließ sich mit dem Rücken zuerst ins kühle Nass fallen. "Der hat doch komplett n Rad ab!" So schnell es mit den viel zu großen Absätzen ging, rannte ich zu der Stelle, an der mein Bruder eben noch gestanden hatte. Dutzende stockbesoffene Menschen drängten sich darum, sodass ich nur schwer vorbei kam. Endlich angekommen, beugte ich mich über den Rand und atmete erleichtert auf, als ich Tom quietschvergnügt im Wasser planschen sah. "Tom, was sollte das denn!? Wer weiß, was da alles drin rumschwimmt. Und wenn dich irgendjemand sieht, bist du am Arsch." Hinter mir ertönte das Gekicher der nervigsten Stimme überhaupt. "Och Helen. Es war doch nur eine kleine Wette. Sei doch nicht so ein Spielverderber." 'Wetten, ich kann dir deine hübsche kleine Nase mit nur einem gezielten Schlag ins Gesicht gleich fünf mal brechen?' "Eine kleine Wette, ja? Wenn die Polizei das mitkriegt, hat er mit Sicherheit größere Probleme als nen verlorenen Wetteinsatz!" Die Hexe verdrehte ihre strahlend blauen Augen. Für mich war die Sache gegessen. Ich wendete meine ganze Aufmerksamkeit auf meinen Bruder, der mittlerweile dabei war, wieder an Bord zu robben. So bekam ich nicht mit, wie die Hexe hinter mir grinsend einem Typen zunickte und er mich daraufhin packte und einfach über Bord schmiss, als wäre ich nichts. Mein verzweifeltes Schreien half dann auch nichts mehr. Mit einem lauten Klatschen durchbrach ich die Oberfläche, meine Lungen füllten sich schlagartig mit Wasser und mein Kopf schlug irgendwo auf. Doch ich spürte keinen Schmerz. Ich brauchte erst einmal einige Sekunden, um zu realisieren, was passiert war. Danach brach ich in Panik aus. Ein Fehler. Dank dem panischen Rumgezappel verhedderte sich mein linker Fuß in einigen Wasserpflanzen. Mein Herz begann zu rasen. Es schlug mir bis zum Hals. Ich zappelte. Trat nach allem und jedem. Zerrte an dem Strang. Doch es brachte nichts. Erschöpft ließ ich mich treiben und starrte die letzten Augenblicke zu dem großen Mond am Himmel, dessen silbernes Licht auch noch tief unter die Wasseroberfläche drang. 

Silver of MoonWhere stories live. Discover now