Schuld

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Zitternd saß er auf der verlassenen Bank am Hafen und fuhr sich mit der unterkühlten Hand durch die Haare. Sein Blick war starr auf die Stelle im Wasser gerichtet, wo noch wenige Minuten zuvor seine kleine Schwester heraus gefischt worden war. Seine tote kleine Schwester. Sie war tot. Sie war wirklich tot. Und es war allein seine Schuld. Er hätte sie gar nicht erst mitnehmen sollen. Es war so dumm von ihm gewesen. Warum hatte er sich von Em dazu überreden lassen? Er war dafür verantwortlich, dass Helen tot war. Niemals wieder würde er sie reden oder lachen hören. Niemals wieder würde sie in ihren Bücher versinken und sich dann für mehrere Stunden in ihr Zimmer einschließen können, um auch ja nicht gestört zu werden. Niemals wieder würde sie sich über Emily aufregen können. Ja ... er wusste, dass sie sie nicht leiden konnte und trotzdem hatte er sein kleines Schwesterchen auf ihren Geheiß hin hierher verfrachtet. Er hasste sich dafür. "Tom? Alles ok?" Eine zarte Hand legte sich sacht auf seine Schulter und drückte sie vorsichtig. Alles ok? Alles ok?! Was sollte diese Frage?! Helen war tot und er allein war dafür verantwortlich! Wütend auf sich selbst schloss er die Augen und verzog den Mund zu einem schmalen Strich. "Tom, es ist nicht deine Schuld ... ", brachte Em mit zittriger Stimme hervor, doch dann wurde sie barsch unterbrochen. "Natürlich ist es meine Schuld! Ich hätte sie gar nicht erst mit her nehmen dürfen! Das war so dumm von mir!" Einen Moment herrschte Stille, dann lief Emily um die Bank herum und zerrte ihn auf die Beine. "Tom ... es ist wirklich nicht deine Schuld, sondern meine ... Nicht nur, dass ich dich überredet hab, sie mit her zu nehmen ... Ich ... ich ... ", sie stockte, während ihr dicke Tränen über die blassen Wangen kullerten. "Ich war so wütend, dass sie sich eingemischt hat ... ich wollte ... ich wollte doch nur Spaß machen ... ich wollte nicht, dass sowas passiert ... ich hab David gesagt, dass er sie ins Wasser werfen soll. Oh Gott Tom, es tut mir so leid ... ich wollte das nicht ..." Ihre Wimperntusche war verschmiert und breitete sich mitsamt der Tränen auf ihrem Gesicht aus. Tom starrte sie an. Er verstand nicht, was sie da gerade gesagt hatte. Das konnte doch unmöglich ernst gemeint gewesen sein. "Es tut mir ja so leid ...", hauchte Em und blickte ihn nun mit ihren großen, verweinten Augen an, wie ein geschlagener Welpe. Doch er wusste nicht, was er sagen sollte. "Thomas!" Eine weitere ihm bekannte Stimme hallte über den stockdunklen Hafen. Mit leeren Blick wandte er sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. "Thomas, Schatz. Geht es dir gut? Bist du verletzt?", fragte seine Mom mit zittriger Stimme und betrachtete ihn kritisch und erleichtert zugleich von oben bis unten. "Mir geht's gut, Mom.", antwortete er leise mit dem Blick zum Boden, um weder ihr, noch seinem Dad, der in einigen Metern Entfernung stehen geblieben war, in die Augen schauen zu müssen. Energisch schloss sie ihn in die Arme. Langsam wanderte sein Blick zu seinem Dad und er konnte die Vorwürfe in seinen Augen spüren, als würden sie alle gleichzeitig auf ihn einschlagen. "Es tut mir so leid ... ", hauchte er, doch sein Vater wandte sich nur ab. "Alles wird wieder gut, Thomas.", flüsterte seine Mutter, auch wenn sie selbst sehr gut wusste, dass das nicht stimmte. Trotzdem blieb er noch eine Weile so stehen, ohne einen Ton von sich zu geben. "Ein Polizist hat vorhin angeboten, dass ihr sie nochmal sehen könnt, bevor ..." Er wollte nicht weiter sprechen. Seine Mom erstarrte einen Moment, dann drückte sie ihn ein wenig von sich weg und betrachtete ihn traurig aus ihren vereinten Augen an. Ein weiterer kurzer Blick zu seinem Vater, dann schüttelte sie zögerlich den Kopf. "Ich ... wir behalten sie lieber so in Erinnerung, wie wir sie das letzte Mal gesehen haben, unsere kleine Träumerin." Sie lächelte bei den letzten Worten.

Silver of MoonWhere stories live. Discover now