Das Leben ist ein Arschloch

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Ich wurde von dem lieblichsten, herzerweichensten Geräusch geweckt, dass die Welt je gehört hat. Es war so erfüllend und rein, dass man das Gefühl hatte auf einer weichen Wolke durch die Lüfte zu schweben.

"Machst du etwa gerade Kaffee?" Josh stand in Boxershorts und Pulli im Raum nebenan (Vermutlich die Küche. Wo hat man sonst eine Kaffeemaschine stehen?) und werkelte dort schon eine ganze Weile. Als ich ihn jedoch ansprach, wirbelte er auf der Stelle herum. "Hey! Du bist wach. Noch eine Stunde länger und ich hätte doch noch den Krankenwagen gerufen. Milch und Zucker?" Er grinste fröhlich, während er der Kaffeemaschine etwas von ihrem köstlichen Nektar raubte. Vorsichtig setzte ich mich auf. "Nur etwas Milch, bitte. Wie lange hab ich geschlafen?" Hastig versuchte ich einzelne wirr abstehende Haare wieder an ihren Platz zu verbannen, als Josh mir meinen Kaffee auf den Couchtisch stellte. "Etwa acht Stunden. Ich hätte dich schon früher wach gemacht, aber du hast geschlafen wie ein Stein. Und dein Puls ging regelmäßig, also hab ich es auch erstmal nicht weiter probiert." Gierig griff ich nach der Tasse und rührte mit dem Löffel die köstlich duftende Flüssigkeit um. "Und warum hast du mich nicht einfach nach Hause gebracht oder meine Eltern angerufen, damit sie mich abholen?", fragte ich weiter und nippte vorsichtig an der heißen Brühe. "Naja ... das seltsame Zeug, was da aus deinen Händen kam, war schon ein bisschen strange. Und deinem Gesichtsausdruck letzte Nacht nach zu urteilen, war ich nicht der Einzige, der keine Ahnung hatte, was das war. Wer weiß, vielleicht hättest du noch eine Art Anfall gekriegt oder wärst explodiert oder so. Ich hatte Angst, dass, wenn ich dich nach hause bringe, dich deine Familie und vor allen Tom gleich zweimal verlieren. Einmal die eigene Schwester sterben sehen ist schlimm genug." Den letzten Satz hatte er nur noch geflüstert. Wie misteriös! Da hat wohl jemand ein Geheimnis *innerlich grins*. "Aber wenn du willst können wir sie anrufen. Ich hab Tom's Nummer eingespeichert.", meinte Josh wieder fröhlicher und ging in Richtung Küche. Als ich ihm jedoch nicht folgte, blieb er stehen. "Wir können dir auch erst was zum Anziehen besorgen. Meine Eltern sind mit meiner Schwester in New York. Bei den ganzen Klamotten merkt sie bestimmt nicht, dass was fehlt ...", meinte er, während er wieder ein paar Schritte auf mich zu kam. Doch ich starrte ihn weiterhin nur mit großen Augen an. "Hab ich es nochmal gemacht?" Ich musste ein schrecklich bemitleidenswertes Bild abgeben. Vollkommen zerzaust, in einem weißen Laken und seit neustem auch einer Wolldecke. Josh zögerte mit der Antwort. "Glaubst du etwa, ich hab dir die gesamten acht Stunden lang beim Schlafen zugeguckt?!" Wenn Blicke töten könnten, wären soeben er, seine Schwester und die vier Generationen vor ihnen komplett aus der Geschichte ausradiert worden. "Wie lange?", fragte ich mit eben diesem Blick und ließ ihn damit einen Schritt zurück taumeln. "Höchstens sechs Stunden. Ich bin zwischendurch eingenickt. Und irgendwer muss dich ja beobachten. Nicht das du wirklich explodierst." Mein Blick des Todes war mit diesen Worten zu einem Blick der globalen Vernichtung mutiert und drohte, noch weiter zu wachsen. "Das kommt auch gar nicht stalker mäßig rüber ... Hab ich es jetzt wieder gemacht oder nicht?", fragte ich mit einem leicht gereizten Unterton, während Josh mir gegenüber langsam aber sicher an DEM BLICK zugrunde ging. "Nicht oft ... nur ein paar mal. Wahrscheinlich wenn du irgendwas bestimmtes geträumt hast." DER BLICK ließ von Josh ab, ich seufzte und schaute betroffen an mir herrunter. "Steht das Angebot mit den Klamotten noch?"

Das Zimmer von Josh's offensichtlich 'kleinen' Schwester zu betreten, fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Aber nicht nur irgendein Schlag. Nein. Ein Bitchslap von Justin Bieber höchstpersönlich. Neben den anscheinend mit allen Justin-Bieber- Postern der vergangenen Jahre tapezierten Wänden (Decke mit eingeschlossen), strahlten mich beim Eintreten Justin-Bieber-Bettwäsche, Justin-Bieber-Sticker auf Schreibtisch und Spiegel und sogar ein Justin-Bieber-Teppich an. "Darf ich vorstellen? Das Zimmer von Lucy", meinte er nur grinsend und machte eine einladende Geste. "Ich glaub, ich muss kotzen!" Leider wurde in diesem Moment der Teil meines Gehirn, der normalerweise für gewitzte Antworten zuständig war, von der Masse an Justin's blockiert und drohte ebenfalls mitsamt seiner vier vorherigen Generationen aus der Geschichte ausradiert zu werden. "Ich habe auch keine andere Antwort erwartet. Aber irgendwann gewöhnt man sich dran.", sagte er lachend und trat in die Höhle des Löwen. "Kann ich mir absolut nicht vorstellen.", erwiderte ich, nachdem ich mich aus der Schockstarre hatte befreien können und folgte Josh in den sicheren Tod. "Lucy müsste etwa 1,70 sein und ist relativ schlank. Sollte also was für dich mit dabei sein. Ähm ... ich warte dann vor der Tür ...", fügte er noch hinzu, dann war er auch schon verschwunden. Als ich die Schiebertür des Schranks öffnete, bekam ich einen weiteren Schlag ins Gesicht.

"JOSH?! Ich weiß deine Gastfreundschaft ja wirklich zu schätzen, aber lieber laufe ich komplett nackt rum, als in einem dieser Oberteile! Hat deine Schwester wirklich kein Oberteil, das weder pink ist, noch eine Großaufnahme dieses Milchbubis?", fragte ich nach zehn Minuten verzweifelter Suche gequält. Von draußen ertönte lachen. "Soll ich dir was von mir geben?", fragte Josh zurück, nachdem der Lachanfall verklungen war. Ich öffnete die Tür zum Flur einen Spalt und streckte den Kopf hindurch. "Kommt drauf an ... Sind die auch pink und verjustint?"

Nein, waren sie nicht. Ganz im Gegenteil. Der Hoody, den er mir gab, war schlicht grau, ohne Aufdruck und unglaublich bequem. "Was hast du jetzt vor? Ich mein, jeder hält dich für tot und es kommt seltsames, silbernes Zeug aus deinen Händen. Von deinen Haaren und Augen mal abgesehen. Gehst du einfach nach Hause?", fragte mich Josh, während er die mittlerweile leeren Kaffeetassen in der Geschirrspüler einräumte. "Ganz ehrlich ... ? Ich hab keine Ahnung ..." Ich seufzte und lehnte mich an die Wand. In der Zwischenzeit hatte Josh einige Teller aus dem Schrank genommen und begann den Tisch zu decken. "Warum bist du so nett zu mir? Lässt mich hier schlafen, gibst mir Klamotten von dir und deiner Schwester und jetzt machst mir auch noch Frühstück. Das alles nur, weil ich die kleine Schwesterchen von Tom bin?" Bei dem letzten Satz hielt er inne und schaute so gequält zu mit hoch, wie ein geschlagener Welpe. Einen Moment schien er noch mit sich zu ringen, dann brach es ihm heraus: "Er ist tot, ok?! Tom ist tot. Er hat sich, etwa eine Stunde nachdem sie dich abgeholt haben, vor einen Zug geworfen. Er ... er hat sich eingeredet, dass er dafür verantwortlich ist, was mit dir passiert ist. Er hat es nicht verkraftet, auch wenn ich nie gedacht hätte, dass er ..." Seine Stimme versagte. "Lügner!", flüsterte ich mit spitzen Tonfall. "Du lügst! Er ... das würde er nicht ... ich glaube nicht ...", stotterte ich, während meine gesamte bisher gekannte Welt einzustürzen drohte.

Silver of MoonWhere stories live. Discover now