10. You found me

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Jess

Das Piepen meines Handyweckers holte mich um Punkt zehn aus dem Tiefschlaf. Seit ich mit NJ schrieb, entwickelte sich wieder so etwas wie eine tägliche Routine in meinem tristen Leben. Er war meine Motivation, jeden Tag aufzustehen und regelmäßig meine E-Mails am Laptop zu checken.

Also erhob ich mich, hievte meinen Körper in den Rollstuhl, welcher vor dem Bett stand und rollte in Richtung Schreibtisch, um den Laptop aufzuklappen. Ich hatte noch in der Nacht, nachdem ich mich endgültig von der Party zurückgezogen hatte, NJs Mail beantwortet und hoffte natürlich jetzt auf eine Reaktion. Seufzend starrte ich Sekunden später auf den leeren Posteingang, doch richtig enttäuscht war ich nicht. Immerhin musste er arbeiten, im Gegensatz zu mir.

Nachdem ich frische Kleidung aus dem Schrank genommen hatte, rollte ich ins Badezimmer, das glücklicherweise nicht besetzt war. Malcolm lag sicher noch im Tiefschlaf, mein Vater saß wahrscheinlich auf der Terrasse und meine Mutter hatte mir ein kurzes „Guten Morgen, Jess", zugerufen, als sie das Haus mit einer großen Tüte betrat.

Darin befanden sich frische Brötchen vom Bäcker, ich nahm diesen himmlischen Geruch sofort wahr, was meinen Magen zum Knurren brachte. Trotzdem suchte ich zunächst das Bad auf, um später frisch geduscht am Frühstückstisch aufzukreuzen. Hungrig machte ich mich über eines der Brötchen her, was meinen Vater zum Schmunzeln animierte.

„Na, Jess, wie geht's dir heute?", fragte er, während meine Mutter mich mit Kaffee versorgte.

„Danke, es geht", antwortete ich, bevor ich von meinem mit Butter und Marmelade beschmierten Brötchen abbiss.

Während ich herzhaft kaute, traf eine Whatsapp Nachricht auf meinem Handy ein, welche ich sofort in Augenschein nahm. Wie zu erwarten stammte sie von Anne, die sich erkundigte, ob sie nachher vorbeischauen dürfte. Da ich nichts dagegen einzuwenden hatte, schrieb ich ihr sofort zurück.

„Anne kommt nachher", erklärte ich, als meine Eltern mich fragend ansahen.

„Das freut mich, sie ist so eine gute Freundin", kam es von meiner Mutter.

Anne war eine gute Freundin, doch sie verstand meine Situation nicht im Mindesten, was unser Streitgespräch vom gestrigen Abend bewies. Vielleicht änderte sich ihre Einstellung zu diesem Thema, aber im Grunde genommen war mir das ziemlich egal. Sie würde mich nicht davon abbringen können, weiterhin mit NJ zu schreiben.

Seine letzte E-Mail bewirkte, dass ich mich noch mehr in dieser virtuellen Welt verschanzen wollte, weil ich ihn dort treffen konnte. Doch sie hatte ebenso den Effekt, dass ich begann über viele Dinge nachzudenken, vor allem über das, was passieren würde, wenn mein Nerv sich komplett erholen sollte.

Im Moment waren meine Beine nur ein nutzloses Anhängsel, früher öffneten sie mir das Tor zu einer anderen Welt. Tanzen, springen, Pirouetten drehen, all das blieb mir verwehrt und irgendwie kam ich damit überhaupt nicht klar. Ich wünschte mir mein altes Leben zurück, doch niemand war in der Lage, es mir wiederzugeben. Niemand.

Aber jetzt gab es NJ, der mich in eine andere Welt entführte, der mir zeigte, dass er für mich da war, der mich zum Lachen brachte, und der über Dinge schrieb, die ich begierig las. Es faszinierte mich, dass er so viel von der Welt sehen konnte. Auch ich hatte mir vor diesem Unfall immer vorgenommen, nicht nur in England zu versauern, sondern in ferne Länder zu reisen.

Im Moment gab es für mich jedoch keine Chance, das zu tun und vielleicht würde ich diese auch nie wieder erhalten. Manchmal bereute ich es, gewisse Dinge nicht getan oder ausprobiert zu haben, in der Annahme, dass später noch genügend Zeit dafür bleiben würde. Doch eines bereute ich nicht: Dass ich für das Ballett gelebt, und mich aufgeopfert hatte, wenn ich auf einer Bühne stand.

Promise me!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt