Kapitel 15

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Wut.
Wut auf mich selbst.
Wut auf ihn.
Wut auf alle.

Mein Herz fühlt sich an, als würde es gleich aus meiner Brust entspringen und mein Kopf pulsiert so stark, dass ich glaube er explodiert gleich.
Was hat er sich dabei gedacht?
Was habe ich mir dabei gedacht es zuzulassen?
Es fühlte sich wie ein Traum an - Ich konnte nicht reden und nicht tun.
Wie angewurzelt stand ich da und habe zugelassen, dass ein Betrüger eine verlobte Frau küsst.
Er hat mir sanft wie ein Dieb meine Küsse gestohlen. Ohne, dass ich es merken konnte.
Ohne, dass ich es verhindern konnte.
Wie ein Betrüger hat er mir das Gefühl gegeben, es sei richtig.
Von der ersten bis zur letzten Sekunde fühlte es sich ehrlich an.
Und wie ein Betrüger und Dieb ging er auch.
Und lies mich zurück in Scherben.

Meine Hand beginnt zu schmerzen.
Die kleine Plastikschatulle in meiner Hand ist so stark zerdrückt, dass Teile des Gehäuse sich in meine Hand fressen.
Kleine Blutflecken überdecken meine Handinnenfläche.
Ich öffne die Schatulle. Ein Ring und ein kleiner Brief.

'Ich hab ihn vor einem Jahr zu deinem 22. Geburtstag gekauft. Ich habe mir versprochen, dass ich dich bis zu deinem nächsten Geburtstag für mich gewinne. Und dann um deine Hand halte.
Immer, wenn ich ein Tief hatte, habe ich auf den Ring geschaut. Er hat mir Hoffnung gegeben.
Ich habe sie verloren, seit ein anderer mir zuvor gekommen ist.
Bitte behalte ihn. Egal was passiert, du sollst wissen, dass da draußen jemand ist, der dich immer lieben wird. Auch wenn du irgendwann jemand anderen lieben solltest.'

Tränen bedecken mein Gesicht.
Zu erst aus Trauer, dann aus Wut. Seine Selbstlosigkeit macht mich rasig.
Manipuliert er mich?
Ich habe keine Zeit nachzudenken, die Blutung an meiner Hand wird intensiver.
Ich schmeiße den Brief und die Schatulle in meine Tasche und greife nach einem Taschentuch.
Dem einen Taschentuch folgen viele andere.
Auf dem Weg zur Haltestelle merke ich, dass die Blutung immer schlimmer wird.
Ich muss in eine Apotheke.
Als ich in eine kleine, unauffällige hinein laufe, sind die Blicke auf meine Hand gerichtet.
Die Angestellte schreit sofort entsetzt auf.
Sekunden später wickelt sie mir bereits einen Verband um die Hand.
Sie fragt, was passiert ist, doch ich schweige.
Als ich ihr versuche Geld zu geben, würgt sie mich sofort ab.
Was ist heute nur los?

Die Fahrt bis nachhause fühlt sich unecht an.
Mein Körper bewegt sich in die richtige Richtung, doch mein Kopf ist nicht präsent.
Ich denke an den Kuss, an Gresas Weinen, an Leonora und an ihren Sohn.
Ich denke an so viel. So viel. Und der Tag ist nicht einmal zur Hälfte herum.
Als ich aussteige, höre ich eine Stimme nach mir rufen.
"Hey Medina."
Ich bleibe stehen.
Mije kommt angerannt.
"Was ist los?"
Sie schaut mich besorgt an.
"Nichts, wieso?"
"Deine Hand. Dein Gesicht.. du.. du..hast was."
Ich schüttel den Kopf.
Sie fragt nicht mehr weiter, nimmt mich in den Arm und legt mich kurz darauf ins Bett.

Als ich aufstehe ist es bereits 17 Uhr. Meine Hand brennt und mein Kopf fühlt sich schwer an.
Wie betäubt laufe ich ins Bad.
„Medina? A je ma mire?" (Medina? Geht's dir besser?)"
Die Worte meiner Mutter vor der Tür klingen warm.
Ich bin ihre Wärme nicht gewöhnt.
„Po, mire jam." (Ja, mir geht's gut.)

Sie entfernt sich wieder mit leisen Schritten.

Ich schaue in den Spiegel.
Mein Make-Up sieht noch gut aus, obwohl es halb verschmiert ist.
Meine Haare sind immer noch seidig glatt. Aber meine Augen sehen betrübt aus.
Die Augenschatten schimmern durch das Make-Up.
Ich wasche mir das Gesicht, binde meine offenen Haare zum Zopf und gehe ins Wohnzimmer.
Sofort nimmt meine Vater mich freudestrahlend in den Arm und gratuliert mir zum Geburtstag.
Sein Cousin, der scheinbar zu Besuch ist, gratuliert mir ebenfalls und fügt hinzu
„23? Shyqyr e paskni feju qiken frik." (23? Gott sei Dank habt ihr eure Tochter kürzlich verlobt.)
Er zwinkert mir zu und ich beschließe den Spruch witzig zu finden. Auch wenn er es absolut nicht ist.

Wir sind gerade dabei Kuchen zu essen, als das Haustelefon klingelt.
„Familja Mustafi.", sagt meine Mutter und reicht mir den Hörer.
Leotrims Familie.
Ich nehme ab und laufe direkt zur Küche.
„Miredita.", sage ich.
„Miredita Medina."
Leotrims Mutter.
„Si jeni a jeni mire?." (Wie geht es euch?), beginne ich zu fragen.
Die üblichen albanischen Begrüßungsreden am Telefon.
Sie gratuliert mir zum Geburtstag und gibt den Hörer an ihren Mann weiter, der mir ebenfalls für die Zukunft alles Gute wünscht.
Wünsche ich mir auch, denke ich mir dabei.

Auch Taulant und seine Frau, von der ich bis dato nichts wusste, gratulieren mir.
Als Leotrim dann an der Reihe ist, habe ich ein ungutes Gefühl im Magen.
„Hey."
„Hey."
„Alles Gute dir."
Wieso gratuliert er mir nochmal? Und so kalt?
„Dankeschön."
„Und sonst so?"
Sein Reden hört sich gezwungen an.
„Weißt du ja. Wir schreiben bei Whatsapp."
Er schweigt.
„Na gut. Hab 'nen schönen Tag und danke für den Anruf.", sage ich genervt und lege ohne eine Antwort abzuwarten auf.
Was ist los mit ihm?
Sofort laufe ich in mein Zimmer und greife nach meinem Handy.

Seit dem Morgen habe ich nicht mehr hineingeguckt.
Zwischen den ganzen Glückwünschen öffne ich Leotrims Chat.
*Sorry, ich hab die nächsten Tage viel zu tun. Ich melde mich, wenn ich Zeit finde. Machs gut.*

Sein Bild sehe ich nicht mehr, seinen Status ebenfalls nicht.
Hat er mich geblockt?

Das Glück trägt den falschen NamenOnde histórias criam vida. Descubra agora