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dreißig / thirty / trente.-

Es tröpfelt, als ich den Flughafen verlasse und mich draußen nach einem Taxi umschaue. Viele Menschen mit einem Haufen Gepäck rennen ebenfalls zu den gelben Wägen, um nach Hause zu gelangen, bevor das Gewitter erst richtig beginnt.

Seufzend lasse ich mich auf meinem Koffer nieder und verschränke die Arme. Ich hätte meinen Rückflug besser durchplanen sollen.

Eine ältere Dame mit einer geblümten Handtasche rempelt mich von der Seite an und läuft fluchend, ohne sich zu entschuldigen, weiter. Ich ignoriere sie und tauche in eine andere Welt unter, in der mich nur gähnende Leere und Stille empfängt. Alles, was ich fühle.

Die Regentropfen werden immer größer und prasseln laut vom Himmel hinunter. Da es kein Dach gibt, sitze ich unter dem freien Himmel und durchnässe meine Klamotten. Kleine Tropfen rinnen an meiner Schläfe runter und ich atme tief ein und aus.

„Austin?"

Die Stimme dringt kaum zu mir durch und ich realisiere sie erst nach mehreren Sekunden. Ich sehe mich um und entdecke meine Mutter, eingewickelt in ihren Lieblingsmantel in knallrot und mit dunklen Augenringen. Sie zwingt sich ein Lächeln auf und deutet mit ihrem Zeigefinger zu unserem Wagen.

„Dein Vater hat mich angerufen und mir gesagt, dass du abgereist bist", sie tritt einen Schritt näher und sieht mich durchdringlich an. „Komm, wir gehen nach Hause."

Ich murmele ein 'in Ordnung' und stehe langsam auf. Mein Koffer ist schwer, als ich ihn hochhebe und zum Auto trage.

„Dir ist bewusst, dass es nicht zum Spaß Räder an seiner Unterseite hat, oder?", fragt Mum belustigt und ich weiß, dass sie das tut, um die Stimmung aufzulockern. Ich nicke jedoch nur und warte, bis sie den Kofferraum öffnet.

„Man, das wird eine Sauerrei geben", flüstert sie, nachdem sie mich von oben bis unten gemustert hat.

Ich nicke und laufe zur Beifahrerseite. Die Autotüren sind offen und ich steige ein.

Nachdem Mum den Koffer richtig positioniert und den Kofferraum wieder abgeschlossen hat, tut sie es mir nach. Es herrscht eine unangenehme Stille, nachdem sie die Tür zugeknallt und sich angeschnallt hat.

Ihre langen Finger umfassen krampfhaft das Lenkrad und ihre Lippen verziehen sich zu einem traurigen Lächeln.

„Genau das wollte ich nicht. Ich wollte nicht um ein Mädchen trauern, dem ich nicht helfen konnte", meint sie und dreht sich zu mir um.

„Es ist vielleicht besser so."

Sie startet den Wagen und wir machen uns auf den Heimweg. Der kurze Aufenthalt in Deutschland lief wie ein Film erneut in meinem Kopf ab. Was wäre wohl noch passiert, wenn ich nicht gegangen wäre?

Die Autofahrt verläuft still und der gleichmäßige Klang des Scheibenwischers beruhigt mich auf seltsame Art und Weise. Ich mache mir so viele Gedanken, dass die Autofahrt relativ schnell vorbeigeht und wir nach kurzer Zeit Zuhause ankommen. Schweigend steigen wir beide aus und ich krame noch nach meinen Koffern. Meine Mutter eilt derweil zur Haustüre, um zu vermeiden, dass sie nass wird, und sperrt schon mal auf.

Ich schleppe meine Koffer in das Haus, welches ich eigentlich für eine ganze Weile verlassen wollte.

„Auf der Kommode liegt noch ein Brief für dich", ruft meine Mutter aus der Küche und ich sehe mich verwirrt um. Der weiße Umschlag fällt mir ins Auge und ich greife danach.

Ich muss kurz schlucken, als ich die krakelige Schrift, in der mein Name auf den Briefumschlag geschrieben wurde, erkenne.

Schnell laufe ich hoch in mein Zimmer, ohne meine Koffer und mit einem Gefühlschaos in mir. Ich lasse mich auf mein frisch bezogenes Bett fallen und hole den Brief heraus. Angst, Nervösität und vieles mehr staut sich in mir. Es fühlt sich an, als würde mein Damm, der alles bis jetzt gut zurückgehalten hat, brechen, als ich Zeile für Zeile Savannahs Worte durchlese.


»Ich weiß nicht, wie man etwas beginnt, was man als letztes schreiben möchte. Ich könnte googeln oder irgendeinen dämlichen Briefanfang aus den ach' so herzzerreißenden Büchern von John Green kopieren, aber ich bin faul. Ich muss mich damit zufriedengeben, dass dies kein dramatischer, hollywoodreifer Abschiedsbrief sein wird, aber man muss sich Prioritäten setzen.

Vielleicht wirst du wütend sein, wenn du weiterhin jeden Morgen aufwachst und ich nicht mehr. Schließlich habe ich mein Versprechen gebrochen, aber sie sind doch zum brechen da. Vertrauen ist ekelhaft, weil du dich damit verletzlich machst. Die Meinungen der Menschen ändern sich, ohne Vorwarnung. Und wenn Menschen ihre Meinung ändern, interessiert es sie auch nicht, ob sie jemanden damit wehtun.

Wie dem auch sei, ich freue mich drauf. Ich klinge schon wieder wie so eine gestörte Fotze, aber vielleicht bin ich es auch. Ich will aber einfach nur an einen Ort, an dem ich endlich ehrlich lachen kann. Ich habe vieles versucht, aber du kannst deine Probleme einfach nicht ertränken. Sie schwimmen dann mit dir und feiern eine fette Poolparty, während du untergehst. Leben ist scheiße.

Wenn sie anfangen mich zu vergessen, wirf ihnen all die netten Vorfälle an den Kopf, die du mitgekriegt hast. Vorallem der schwarzen, alten. Die war beschissen. Und wenn du anfängst mich zu vergessen, mach's schnell. Denn dann bin ich wirklich endlich tot.

Liebste Grüße aus der Hölle, Savannah.«

Schlagartig fallen mir die Worte meiner Mutter ein. Es wäre ja nicht Savannah, wenn sie keinen filmreifen Abgang hinlegen würde.

SavannahWhere stories live. Discover now