25/08/15 - Cassie Bean

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»Na, edle Kriegerin?« Dome lehnte sich zur Beifahrerseite, um mir die Tür zu öffnen. Ich zog die Tür des Cabrios zu und sank tiefer im Sitz als hätte nicht sowieso schon jeder gesehen, dass ich in das protzige Auto gestiegen war.

»Mum hat gesagt, du sollst kein Auto mehr fahren.« Ich halte den Blick auf die Gruppe vor dem Krankenhaus gerichtet. Grace kommt hinausgestürmt, die Kapuze über dem Kopf. Sie hält den Blick gen Boden gerichtet.

Dome äfft mich nach. »Seit wann hörst du auf das, was Mum sagt?« Tatsächlich tat ich das immer. Und Dome auch. Was auch immer unsere Eltern sagten, wurde in der Regel befolgt. »Sind das deine Leute da?«

Ich murre zustimmend.

»Du scheinst ja nicht sonderlich überzeugt zu sein.«

»Können wir bitte einfach fahren?« Ich riss meinen Blick von den anderen los. Dome machte keine Anstalten den Wagen zu starten. Ich seufzte. »Zwei Handvoll depressiver Kids mit Individualitätsanspruch, okay? Ich habe mit keinem wirklich gesprochen, sie gehen alle hier auf die Schule und einige davon scheinen sich bereits bekannt zu sein.« Zumindest Grace schien den meisten in der Runde bereits bekannt.

»Klingt doch spannend. Wahrscheinlich sprießen sie nur so vor Vielfältigkeit, in meiner Gruppe sprechen nur alle davon, wie sie wann ins Gras beißen werden.«

Ich verspannte mich. Domes davonlaufende Zeit hing über unserer Familie wie ein gewaltiges Schwert. Ich fürchtete den Tag, er machte darüber Witze. Mum war wütend, Dad schwieg. »Wenigstens redet ihr miteinander. Bei uns spricht nur die Soziopathin und auch nur, um zu streiten.«

»Aufregend!« Mit einem breiten Grinsen ließ er den Motor aufheulen und ließ das Krankenhaus endlich hinter uns verschwinden. »Vielleicht kannst du mich ja mal mitnehmen.«

»Klar, bestimmt machen wir demnächst einen ›bring deine Familie mit zur Therapie‹-Tag.«

»Familientherapie ist großartig.«

Ich schnaubte. »Klar, nach der Sitzung bei deinem Therapeuten mit Mums Gefluchte und Geheule gings mir definitiv besser.« Ich starrte auf die vorbeiziehenden Häuserreihen. Dafür das nun ihre beiden Kinder in therapeutischer Behandlung waren, war die ältere Bean-Generation ziemlich schlecht darin, mit Fremden über die Probleme zu Hause zu sprechen.

Einen Moment lang schwiegen wir, dann setzte Dome von Neuem an. »Weißt du, vielleicht muss einfach jemand von euch das Gespräch starten. Wenn jemand den ersten Schritt macht, trauen sich die anderen vielleicht auch.« Seine Idee schien schlüssig, zumindest in der Theorie. In der Praxis hatte er zu mir gesagt, dass sich nur jemand trauen musste, etwas zu sagen.

»Und worüber sollen wir, deiner Meinung nach, sprechen?«

»Keine Ahnung. Wir sprechen darüber, wie unsere Woche gelaufen ist. Die guten und die schlechten Dinge, die sich nun mal in den paar Tagen ansammeln können.« Er wirft mir einen kurzen Blick zu, den ich nicht erwiderte. »Auch in zwei Tagen kann einiges an Gefühlen zusammenkommen, geschweige denn übers Wochenende. Man kann darüber sprechen, was einen bedrückt, was dich glücklich gemacht hat und irgendwann, ehe du dich versiehst, kennst du die Lebensgeschichte von jeder und jedem in dem Stuhlkreis und ihr macht Witze darüber, wie ihr in der Therapiegruppe gelandet seid.«

Es machte mich so wütend, dass er sich so leicht in neuen Gruppen zurechtfinden konnte. Dass ausgerechnet der begabte und geliebte Dominikus gehen musste und seine komische Schwester am Leben bleiben konnte. »Ich bin hier gelandet, weil mein krebskranker Bruder mich zur Therapie zwingt.« Meine Stimme klingt harscher als beabsichtigt.

Mit einem Ruck blieb das Auto an einer roten Ampel stehen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Dome mich von der Seite musterte. »Du weißt genau, wieso ich dich zwinge.« Seine Stimme klingt nicht wütend wie meine. Er klingt müde, kraftlos. Wir führten diese Diskussion ewig lang schon und je häufiger ich über die Situation nachdachte, desto wütender wurde ich. Es machte mich wütend, dass egal wo er hinging, die Menschen an seinen Lippen hingen und ihm stundenlang zuhören wollten. Ich war so wütend, dass nicht ich an seiner Stelle stehen konnte, dass ich nicht den ganzen Mist übernehmen konnte. Ich wollte jedes einzelne bösartige Geschwür an mich reißen, jeden Schmerz, durch den er sich kämpfte an seiner Stelle spüren.

»Klar, weil meine Eltern neureiche Schnösel sind und ich mit meiner Hochbegabung auf eine Schule gezwungen werde, in der es im Grunde nur weiße Kids gibt.«

»Etwas freundlicher und du hast einen super Start.«

Ich schnaubte und der Frust verebbte etwas. »Freundlichkeit wird dort überbewertet.«

»Dann hast du deinen Start.« Dome seufzte und lenkte das Auto in unsere Einfahrt. Manchmal erschien mir das Haus viel zu groß. Unser Garten war wunderschön und ich konnte stundenlang über den perfekt gemähten Rasen schlendern. Ich würde mit keinem aus der Gruppe tauschen wollen. Und dennoch war das Haus riesig, hatte zu viel Raum für uns vier. Zu viele Orte, in denen man sich Einsam fühlen konnte. Und wenn Dome –

»Sag ihnen bitte, dass es gut war, ja?« Dome parkte den Wagen, den Blick fest auf die Eingangstür gerichtet, während der Motor unter uns erstarb. Heute konnte unser Zuhause gar nicht mehr groß genug werden.

»Tue ich doch immer«, versprach ich. In genau dem Moment wurde die Haustür aufgerissen und unsere Mutter kam wutentbrannt darin zum Vorschein. Dome seufzte, hob die Mundwinkel zu einem Lächeln und winkte unserer Mutter als sei das ganze Gespräch eben nicht gewesen. Mir fiel es deutlich schwieriger, die Maske zu wahren.

Mit zitternden Händen griff ich nach der Türklinke und stieg aus dem Wagen, während Dome gar nicht erst die Tür öffnete, sondern einfach darüber sprang. Mums Augen wurden noch schmaler. »Weißt du eigentlich, wie viele Sorgen ich mir gemacht habe?«, fuhr sie ihn an. »Ich bin dir hinterhergelaufen!«

»Du hast es gar nicht erst weiter als die Einfahrt geschafft«, fügte Dome hinzu.

Mum überging seinen Kommentar einfach: »Ich habe dich sieben Mal angerufen. Sieben Mal, Dominikus!«

»Beim Autofahren sollte man nicht ans Handy gehen.«

Die Worte waren ein Fehler. »Wieso musst du dich immer jedem und allem widersetzen? Deine Ärzte haben ausdrücklich gesagt, dass du Ruhe brauchst! Dass du nicht Autofahren sollst!«

»Ich hatte bis eben sehr viel Ruhe. Und das mit dem Autofahren ist deine Idee gewesen, nicht die der Ärzte.« Ich beneidete Dome für seine Standhaftigkeit. Er konnte es mit jedem auf diesem Planeten aufnehmen.

»Du solltest dich ausruhen!«, wiederholte Mum und Dome zuckte mit den Schultern: »Ich wollte Cassie überraschen.« Und damit war das Thema mit dem Auto erledigt, zumindest vorerst. Mums Blick hielt mich gefangen und ich fühlte mich wie erstarrt. Ich hatte nichts falsch gemacht, nicht verbrochen. Sie würde mich nur fragen, wie die Sitzung gelaufen war und dennoch raste mir mein Herz bis in den Hals hinauf. Ich beneidete Dome wirklich für seine Standhaftigkeit.

»Wie wars, Liebling?«

Mit einem kurzen Blick auf meinen Bruder zwang ichmeine Lippen zu einem Lächeln. »Ungewohnt, aber echt gut.«


2016-Me: Gendert nicht
2022-Me: ist generell viel krasser und schlauer

Guys.. ich bin am überlegen zu Belletristica zu wechseln :D Oder zumindest meine Sachen auch da anzubieten. Ich bin mir aber mit allem noch nicht so ganz sicher - vor allem was meine Online-Schreibzukunft betrifft. Andererseits liebe ich den Austausch mit euch hier und will, dass dieses Werk nachm überarbeiten (und lektorieren) auch veröffentlichen. Die Frage ist dann aber auch, inwiefern es Sinn macht, die Überarbeiteten Kapitel hier hochzuladen - u know my dilemma?

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⏰ Last updated: Dec 13, 2022 ⏰

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