17. Kapitel

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Erleichtert befreite ich mich von den High Heels und warf diese in die Ecke, während ich Harrys Blick auf meinem Körper spürte. Er hatte während der Fahrt nicht viel geredet, aber dafür ununterbrochen gelächelt und mir die Grübchen auf seinen Wangen zur Schau gestellt.

Ich hob den Kopf an und fing sofort seinen Blick auf.

„Du siehst wunderschön aus." Ich lachte auf und deutete auf mein Gesicht.

„Wir wissen beide, dass mein Make-up überall dort ist, wo es nicht sein sollte. Ich habe mich nämlich vorhin im Spiegel gesehen. Grässlich." Lächelnd trat ich auf ihn zu und setzte mich neben ihm auf das Bett.

„Trotzdem bist du schön." Sein Lächeln wurde breiter.

„Kann ich dir was erzählen?", fragte ich und faltete meine Hände auf dem Schoß zusammen. Er nickte und legte den Kopf schief. Das Lächeln auf seinen Lippen starb ab.

„Ich hatte mal jemanden kennen gelernt", begann ich und hielt meine Miene so ernst, wie es nur ging. „Er war anders. Gut anders. Und er stotterte wie verrückt, wann auch immer er mich sah. Ach ja, als ich ihm mal Süßigkeiten anbot, meinte er, dass seine Mutter ihm nicht erlauben würde Süßigkeiten zu essen, weil seine Zähne darunter leiden." Harry presste die Lippen zusammen, um nicht laut loszulachen und ehe ich noch etwas sagen konnte, lag ich mit dem Rücken auf dem Bett. Über mir sein Körper.

„Amüsierst du dich?" Seine Augen strahlten und ich spürte das starke Ziehen in meiner Brust.

„Die Geschichte ist nicht zu Ende", flüsterte ich und hob meinen Kopf an, um meine Lippen näher an seine zu bringen. Weder ich wollte die Geschichte weitererzählen, noch er wollte sie hören.

Einen Augenblick später verschwand die Luft zwischen uns und unsere Lippen bewegten sich sanft miteinander. Harry versuchte den Kuss nicht zu vertiefen und kaum hatte sich etwas in mir ausgebreitet, schon starb es ab, als er sich mir entzog. Verwirrt sah ich zu, wie er wieder seinen alten Platz auf dem Bett einnahm und den Kopf hängen ließ.

„Alles okay?" Vorsichtig setzte ich mich auf und wandte meinen Körper so um, dass ich ihn im Visier hatte.

„Als ich klein war, hatten wir eine Nachbarin", begann er und ich hielt erschrocken den Atem an. Noch nie zuvor hatte er mit solch einem herzzerreißenden Tonfall geredet und ich wusste, dass was auch immer als Nächstes aus seinem Mund fallen würde, etwas war, was ihn Tag und Nacht verfolgte.

„Alle in der Siedlung liebten sie. Sie hatte diese beruhigende Art, weißt du? Und meine Schwester und ich waren oft bei ihr, wenn meine Eltern spät arbeiten mussten. Sie liebte uns. Versicherte meinen Eltern, dass sie endlich die Enkelkinder hatte, die sie sich sehnlich gewünscht, aber nie bekommen hatte. Und sie .. sie mochte mich mehr, als meine Schwester." Sein Atem stockte und seine Augen waren auf seine zitternden Hände gerichtet. Ich wusste, was als Nächstes kommen würde, aber ein Teil von mir hoffte, dass ich mich irren und er wieder lächeln und mir versichern würde, dass seine Geschichte ein glückliches Ende hatte. Als er nach einiger Zeit wieder den Mund öffnete, sammelten sich die Tränen in meinen Augen.

„Während Gemma im Wohnzimmer ein Eis bekam und unsere Lieblingsserie weiter schauen durfte, musste ich ins Bett und ein Nickerchen halten, weil ich noch ein „junger Mann" war. Sie legte sich oft zu mir ins Bett, so wie es Mom immer tat und sie hatte die Hände immer dort, wo ich es nicht verstand. Sie-"

„Harry", keuchte ich. Die Tränen versperrten mir die Sicht. Was für eine Frau konnte je so etwas einem kleinen Jungen antun?

„Meine Eltern fanden es heraus, als ich eines Tages nicht mehr aufs Klo gehen konnte und danach brach die Hölle aus." Er fuhr sich mit den Händen durch das Haar und seufzte.

„Von Sitzungen beim Psychologen bis hin zum Umzug und zur Scheidung meiner Eltern. Und das ist auch der Grund dafür, wieso ich so bin, wie ich bin. Ich versteckte mich hinter meinen Klamotten, in der Hoffnung, niemand würde in meine Nähe kommen. Ich ließ mir Tattoos stechen, um meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Und ich konnte damals nicht mit dir reden, weil ich nicht wollte, dass du mit mir redest." Zum ersten Mal, seit er seine Geschichte erzählt hatte, blickte er in meine Richtung. Er bemerkte die Tränen, die über meine Wangen kullerten und kniff die Augen zusammen.

„Wenn du gehen möchtest-"

„Natürlich nicht." Erleichtert nickte er und sah mich mit einem Blick an, dass mir alle Haare am Körper aufstehen ließ. Meine Hand zuckte in die Höhe und als ich mein Vorhaben bemerkte, ließ ich sie sofort wieder fallen.

„Kyla, du kannst mich anfassen", murmelte er peinlich berührt. „Ich will, dass du mich anfasst." Ohne es mir ein zweites Mal sagen zu lassen, legte ich die Hände auf seine Wangen und schmiegte mich näher an ihn.

Noch nie zuvor hatte ich mir gewünscht, etwas rückgängig zu machen, wie in diesem Moment, als Harry mir sein gebrochenes Herz in die Hände legte. Seine Augen bohrten Löcher in meine Seele und ich näherte mein Gesicht ein weiteres Mal vorsichtig an seines. Erleichterung huschte durch seine Augen und sanft, wie nie zuvor, zog ich ihn an mich und nahm seine Lippen in Führung.

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