Kapitel 5

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"And if I only could
Make a deal with God
And get him to swap our places"

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„...und wir sind dort immer zum Klippenspringen hochgewandert. Der Ausblick war echt gigantisch. Wir konnten den kompletten Sonnenaufgang genau beobachten.", beschrieb Daniel wild gestikulierend, als er von einem der Wochenendausflüge erzählte, die er mit seinem Freund und anderen Mit-Kunststudenten gemacht hatte. Vielleicht sollte ich irgendwann mal einen Künstler heiraten. Der kann mir dann zumindest den Sonnenaufgang mit allen Farbnuancen genau beschreiben, während ich weiter in Ruhe schlafen kann...

„Ich bin sicher, Ella hätte es gefallen!", beendete er seine Erzählung enthusiastisch. Ihr Name riss mich aus meinen Gedanken. Wir sagten diesen Namen nicht. Nie. Vor allem nicht beim Essen, oder wenn mein Vater dabei war. Eine erdrückende Stille trat ein. Ich starrte auf meinen Teller, wo noch die Reste von dem Braten erkennbar waren, den meine Mutter, wie ich später dann erfahren hatte, extra für Daniel gemacht hatte. Mein Vater ließ seinen Kopf in seine Hände sinken und meine Mutter räusperte sich und schob ihren Stuhl zurück. Das laute Quietschen der Holzbeine auf dem Parkett verstärkte das unbehagliche Gefühl, das nun hier herrschte. Doch mein Bruder ignorierte den plötzlichen Stimmungswechsel.

„Ich räum schon ab. Vielleicht kannst du Daniel beim Auspacken helfen, Lily?" Ich nickte wie ein Roboter und folgte Daniel, der bereits aufgestanden war, aus dem Wohnzimmer ins Gästezimmer. Am Tisch saß nur noch mein Vater, der den Kopf in seinen Händen vergraben hatte, während meine Mutter ihm über die Schulter strich. Ich zog die Tür, etwas lauter als geplant, hinter mir zu.

In Daniels Zimmer angekommen war ich kurz davor die Tür hinter uns zuzuschlagen, doch tat es meinen Eltern zu liebe nicht. „Sag mal, hast du sie nicht mehr alle?!? Wie konntest du ihren Namen einfach so beim Essen erwähnen als wäre nichts dabei?" Mein Bruder sah mich geschockt an und fuhr sich verzweifelt mit einer Hand durch seine blonden Haare. „Scheiße, es tut mir leid. Ich habe nicht darüber... Ich habe nicht darüber nachgedacht. Scheiße man." Er ließ sich auf das Bett fallen. „Sie wäre in zwei Monaten 18 geworden. Sie hätte zur Uni gehen können, zusammen mit mir. Ich lebe genau das, was sie immer tun wollte." Er fuhr sich mit der Hand durch sein Gesicht. Ich ließ mich neben ihm auf die noch nicht bezogene Matratze fallen.

„Was meinst du, wie ich mich fühle? Mein 18. Geburtstag, ihr 18. Geburtstag ist nun nicht der Tag, an dem ich feiern möchte, sondern der Tag, wo Mum sich vermutlich die ganze Zeit bemüht, die Tatsache, dass Ella tot ist, meinetwillen zu ignorieren. Währenddessen wird Dad, wie jedes Jahr, auch wenn es diesmal mein 18. Geburtstag ist, länger arbeiten. Ich werde nicht ausgehen dürfen, weil mir ja etwas passieren könnte. Es wird sicher echt ein genialer Geburtstag. Vor allem, wenn jeder, der mich ansieht direkt an Ella denkt. Dieses Jahr bestimmt noch mehr als sonst."

„Scheiße, es tut mir leid, so Leid. So habe ich das nicht gemeint. Versuch doch ihn zu verstehen... Dad will dich nur beschützen. Er hat doch schon eine Tochter verloren."

„Ist das der Grund dafür, mir alles zu verbieten? Du studierst über 1000 Meilen weit weg, während ich vermutlich den Rest meines Lebens in diesem Apartment verbringen werde. Ich habe Ella auch verloren und ich sehe sie in jedem Spiegel, in jeder Glasscheibe und den Augen von euch allen, wenn ihr mich einen kurzen Moment lang für sie haltet. " Eine Träne lief mir über das Gesicht, doch ich wischte sie wütend weg. Ich würde jetzt nicht weinen.

„Und weißt du was? Für die nächste Woche wird Dad jetzt noch mehr arbeiten, weil er immer noch denkt, das damals war seine Schuld. Er scheint der Meinung zu sein, dass er, wenn er nur lang genug arbeitet und genug Menschen rettet, irgendwann nicht mehr das Gefühl haben wird, dass es nicht seine Schuld war, dass er sie nicht retten konnte." Ich weinte nun heftiger. Ich hatte so lange versucht die Gedanken an Ellas und meinen Geburtstag zu verdrängen.

„Shhhh..." Daniel zog mich in seine Arme.

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Ella, Gabriella ist... war... unsere Schwester, meine Zwillingsschwester. Sie starb vor fast zwei Jahren nur eine Woche nach unserem 16. Geburtstag. Niemand von uns weiß, wie es genau passiert ist, oder was genau passiert ist. Sie starb allein, draußen, auf der Straße.

Während ich immer brav zuhause geblieben war und mit Freunden oder meinem Dad einen Filmemarathon machte, hatte sie sich öfter abends rausgeschlichen. Manchmal hatte sie es geschafft, mich davon zu überzeugen mitzukommen. Doch das war nur selten passiert. Und wenn es dann passiert war, saßen wir dann einfach nur mit einigen ihrer Freunde in dem Skatepark am Haven, der damals, als wir noch in Tulsa, Oklahoma lebten nur wenige Minuten von unserem Haus entfernt war.

Aber die meiste Zeit war ich abends nicht mitgekommen, sondern hatte die ganze Nacht gelesen, um lange genug wach zu sein, damit ich ihr abends das Fenster bei der Feuertreppe aufmachen konnte. So waren wir immer rein und raus geklettert. Doch eines Freitagabends war sie nicht zur vereinbarten Zeit wieder nachhause gekommen. Auch mehrere Stunden später nicht. Sie hatte auch nicht auf meine Anrufe reagiert. Als ich dann irgendwann den Mut aufgebracht hatte, eine ihrer Freundinnen anzurufen, hatte sie mir verschlafen mitgeteilt, dass Ella und sie sich schon vor Stunden verabschiedet hatten und dass Ella längst zuhause sein sollte. Was sie jedoch nicht gewesen war.

Ich hatte sofort Daniel angerufen, der zu der Zeit gerade in seinem ersten Jahr an der Uni war. Er war noch wach gewesen, weil er auf irgendeiner Party mit Freunden feiern war. Daniel wusste, dass Ella und ich uns manchmal nachts rausschlichen. Er selbst hatte uns gezeigt, wie man die Feuertreppe runter und der schwierigere Teil: wieder hochkommt.

Mittlerweile war es drei Uhr gewesen. Drei Stunden später als sie sonst immer zurückgekommen war. Als ich Daniel erzählte, dass ihre Freunde auch nicht wussten, wo Ella war, schickte er mich meinen Vater wecken. Dad rief sofort Suchtrupps zusammen und die Suche nach meiner Schwester begann.

Ich glaube, die nächsten paar Stunden habe ich zu weit verdrängt, um mich an sie zu erinnern, während ich gleichzeitig weiß, dass ich sie nie ganz vergessen werde.

Sie fanden sie kurz nach Sonnenaufgang. Ihre Leiche war an die Ufer des Arkansas River angeschwemmt worden. Drei Kugeln in ihrer Brust. Die Polizei hat ihre Mörder bis heute nicht gefunden und Dad gibt sich dafür immer noch die Schuld. Er denkt, er hätte sie beschützen können, doch niemand hätte das gekonnt.

Nach Ellas Tod durfte ich wochenlang nur noch in Begleitung meiner Eltern oder meines Bruders das Haus verlassen und so verließ ich eigentlich nie das Haus, außer wenn ich zur Schule musste. Nicht, dass es mich gestört hätte. Die mitleidigen Blicke oder, was noch viel schlimmer gewesen war, der Moment, indem mich einer von Ellas Freunden mit leuchtenden Augen angesehen hatte, bevor das Licht in ihnen erlischt war, wenn sie gemerkt hatten, dass ich es war und nicht sie. Dad arbeitete nur noch, er versuchte jeden Fall zu lösen, jedes Leben zu retten. Er bekam sogar irgendeine Auszeichnung für seine Arbeit.

Doch irgendwann ertrugen auch meine Eltern die Erinnerungen, die dort in Tulsa hingen nicht mehr. Fünf Monate nach dem Tod meiner Schwester zogen wir um. Die Erfolge meines Vaters waren nicht unbemerkt geblieben und er hatte einen neuen Job als Stellvertreter des Polizeipräsidiums in New York bekommen. Mein Bruder blieb in Oklahoma, doch ich wechselte die Schule und zog um. Ich verließ meine Freunde, mit denen ich in den letzten Monaten sowieso kaum Kontakt gehabt hatte um ein neues Leben anzufangen, genau, wie meine Eltern es geplant hatten.

Und es funktionierte. Zumindest so halbwegs. Dad arbeitete immer noch viel, doch zumindest saß er nicht mehr die ganze Nacht am Schreibtisch. Meine Mutter bewarb sich als Journalistin bei der Times. Ich traf Celia, Alex und Eric, fing mit dem Kickboxen an, begann wieder Geige zu spielen und lebte ein Leben als Lily, nicht Lily, die Schwester von Ella. Eine Regel gab es jedoch: Ellas Name wurde totgeschwiegen. Wir redeten nicht über sie und wenn jemand aus Versehen ihren Namen nannte, passierte genau das, was zuvor beim Essen passiert war.

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Arme Lily :(

Über 100 Reads!!! Ihr seid toll :)

Ich hoffe, ihr hattet ein schönes Wochenende und euch gefällt mein neues Kapitel  <3

LG Wendy

Mafioso to goWhere stories live. Discover now