Zeitverschwendung

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Ich blicke meiner Mutter vorsichtig in die Augen, bevor ich einen Schritt auf die zugehe.
"Ja Mutter?', frage ich.
Mom beginnt zu lachen, weint jedoch nebenbei und schliesst mich in die Arme. Du meine Güte, wann habe ich das das letzte Mal erlebt? Meine Mutter ist emotional?

"Ist alles gut Mom, nicht weinen", tröste ich sie, indem ich ihr leicht auf den Rücken tippe.
"Danke Sharon", flüstert sie mir ins Ohr.
"Wofür?"
"Dass du mir meine Schwester zurück gebracht hast."
"Schon gut, es wurde ja auch langsam mal Zeit."
Sie löst sich von mir und wischt sich mit dem Handrücken die Tränen weg.

"Und wer ist das?", fragt sie mich mit den Augen auf Harry gerichtet.
"Das Mom, ist Harry, mein Freund", erzähle ich ihr.
"Und mein Sohn", fügt Anne stolz hinzu.

Harry wirkt nervös, als er zwischen mir und meiner Mom hin und her schaut. Ich verstehe sofort und stelle mich neben ihn. Meine Hand lege ich sanft in seine Hand und drücke sie kurz, um ihm meine Anwesenheit zu versichern.
"Freut mich sehr, Sie kennenzulernen", kommt es leise von Harry.
Mom lächelt und schliesst ihn, zu meiner Überraschung in die Arme. "Freut mich auch. Nenn mich bitte Katie."
Harry nickt und blickt überfordert zu mir herüber. Ich verkneife mir ein Lächeln, weil der Anblick einfach zu köstlich ist.
"Und nun wird gegessen", verkündet Mom und deutet mit ihrem Arm auf die Terasse hinaus. Wir alle folgen ihr.

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"Könnten dein Dad und ich dich bitte kurz drinnen sprechen?", sagt meine Mutter nach einiger Zeit zu mir.
Bis jetzt verlief alles nach Plan, eigentlich sogar besser. Alle verstanden sich super und aus Mom wurde ein glücklicher Mensch, der sich für das Leben der anderen zu interessieren scheint.
Doch was wollten sie nun von mir?
Ich nicke nur, drücke kurz Harry's Bein und versuche ihm zu verständigen, dass ich kurz weg gehe. Er sieht mir mit einem besorgten Blick nach. Ich hebe nur meinen Daumen in die Höhe, um ihn zu beruhigen, obwohl ich selbst extrem nervös bin.

"Also", beginnt meine Mutter das Gespräch, nachdem sie die Terassentüre hinter sich zuzieht. "Wir freuen uns sehr, dass du wieder da bist. Noch dazu freue ich mich riesig, dass Anne und Oma hier sind. Und Harry natürlich. Trotzdem wollten wir dich nochmals auf unser Gespräch am Telefon hinweisen."
Ich muss leer schlucken, bevor ich tief einatme und sie direkt anblicke. "Ja Mutter?"
Diese wirkt ziemlich überrascht über mein Selbstbewusstsein, denn sie zögert kurz, bevor sie weiterfährt: "Du hast uns mit der Aussage ziemlich getroffen, als du sagtest, wir hätten uns nie für dich interessiert."
"Es ist aber so. Ihr zieht seit Jahren euer Ding durch und wundert euch dann, weshalb ich mich so von euch abwende?"
"Du bist schliesslich volljährig", kontert meine Mutter arrogant.
"Und das gibt dir das Recht, mich links liegen zu lassen?" Ich spüre, wie die Wut in mir hoch steigt.
Es ist also doch noch nicht alles gut und versöhnt.
"Wir haben dich immer angerufen und du hast gesagt, dir ginge es gut", erwiedert sie.
"Was soll ich auch sagen? 'Hi Mom & Dad, ich bin jeden Tag alleine und ich fühle mich toll dabei, während ihr von Metropole zu Metropole reist und lieber Geld ausgibt für Luxushotels, statt mir die Reise zu bezahlen'?"
Es tat gut, endlich mal die Wahrheit zu sagen. Ich fühle mich um einiges leichter und besser.

"Halt jetzt deinen Mund", schreit Mom mich plötzlich an. Sie hebt einen Finger und deutet auf mich. "Du bist selberschuld, wenn du dich nicht aus dem Haus traust und dich unter die Leute mischst. Kein Wunder, dass dich niemand will!"
Ich erstarre und blicke meine Mutter entsetzt an. Wie bitte? Kein Wunder will mich niemand?

"Was deine Mutter damit sagen will Liebes ist, dass du dich zu wenig traust, auf andere zu zu gehen. Du würdest bestimmt viele tolle Freunde finden", mischt Dad sich endlich ein. Er blickt rüber zu Mom, die gerade verzweifelt zu ihm hin sieht.
"Mir ist scheiss egal, was sie damit gemeint hat. Sie hat es gesagt. Mich will niemand. Und da sie es so klar formuliert hat, wird es genau das sein, was ihr schon lange über mich denkt."
"Nein mein Schatz", gibt Dad ängstlich von sich.

"Du", sage ich, während ich auf Mom deute. "Nur weil du nicht mir dir oder deiner Vergangenheit klar kommst und es nie getan hast, musst du dich nicht in die Arbeit stürzen und dafür deine Familie aufs Spiel setzten. Kann ich was dafür, dass du deine Schwester für eine Zeit verloren hast? Nein!" Ich lege eine kurze Pause ein, bevor ich weiterfahre.
"Und du Dad solltest dich was schämen, immer nur nach Mom's Pfeife zu tanzen. Ich weiss, dass du oft anderer Meinung als sie bist. Aber aus Angst sagst du nie etwas. Das ist so traurig."
Nun spüre ich, wie in mir die Tränen hochsteigen und sich meine Wut in Trauer umwandelt.
"Ihr seit so erbärmlich", gebe ich leise von mir.

Meine Mutter macht einen Schritt auf mich zu und bevor Dad eingreifen kann, hebt sie die Hand und verpasst mir eine Ohrfeige. Alles was ich noch spüre, ist der stechende Schmerz in meiner Wange.
"Bist du völlig verrückt?', schreit Dad sie an bevor er auf mich zustürmt, doch ich winde mich aus seinem Griff und drehe mich um, um davon zu rennen. Jedoch komme ich nicht weit, da ich in zwei starke Arme renne. Harry.
Er drückt mich fest an seine Brust und streicht vorsichtig über die Stelle, die auf meiner Wange glüht.

"Wie konnten Sie nur?", gibt Harry mit seiner rauen Stimme von sich. Er ist wütend - sehr sogar. Seine schnell hebende und sich wieder senkende Brust zeigt, wie sehr er sich unter Kontrolle haben muss.
Hinter Harry tauchen Anne und Oma auf, die sich schützend vor uns stellen, während Harry mich von meinen Eltern wegdreht und mit seinem Körper die Sicht versperrt.

"Katie, das war ein Fehler", flüstert Oma. Jedoch kann ich sie gut verstehen, da in diesem Haus eine unheimliche Stille herrscht.

"Harry", wimmere ich. Er bückt sich einwenig zu mir herunter und betrachtet mich besorgt.
"Ja Kleines?"
"Bring mich hier weg", bitte ich ihn.
"Aber natürlich." Er nimmt meine Hand, legt seine Arme beschützend um mich und führt mich an meinen Eltern vorbei, in Richtung Haustüre. Beim Vorbeigehen an der Komode greift er nach den Autoschlüsseln und öffnet darauf die Haustüre, die kurz danach wieder ins Schloss fällt.
Hätte ich Harry nicht hier bei mir, wäre dies ein Moment gewesen, an dem ich wahrscheinlich gefallen wäre.

Weder meine Mutter noch mein Vater haben mich jemals geschlagen. Ich meine, es ist für mich überhaupt kein Problem, wenn man das eigene Kind mal am Arm packt oder ihm eine auf den Hintern verpasst.
Aber jetzt, da ich volljährig bin, sollte man in der Lage sein, darüber zu reden und etwas auszudiskutieren. Doch es scheint, als hätte ich mich in meiner Familie getäuscht. Oder besser gesagt in meiner Mutter.

Wie in Trance setze ich mich in den Wagen und starre meine Hände an. Was für ein Schmerz eine solche Hand anstellen kann, habe ich gerade selbst erlebt. Geschweige denn vom Schmerz, der in mir drinnen verursacht wurde.

Immer wieder hallen ihre Wörter in meinem Kopf, während Harry schweigsam aus der Ausfährt fährt und in Richtung Wald einbiegt.
'Kein Wunder, dass dich niemand will.' 'Kein Wunder, dass dich niemand will.'
Dass es genau meine Mutter sein muss, die diese Worte eines Tages in den Mund nimmt und mir an den Kopf wirft.

'Kein Wunder, dass dich niemand will."

Hey AngelWhere stories live. Discover now