Dynasty

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Hätte man versucht in Worte zu fassen, wie ich mich gerade fühlte, wäre niemals jemand dazu fähig gewesen, meine Gefühlen auszudrücken.
Meine Emotionen überrollten mich und ich konnte einfach nicht anderst, als aus dem Bus zu springen, meine Schuhe auszuziehen und den kleinen Hügel hinunterzurennen. Meine Füsse berührten den feinen Sand und zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich verstehen was es hiess, am Strand zu sein.

"Harry! Komm hier her", rief ich nach ihm und fuchtelte wild mit meinen Armen herum. Er stieg aus dem Bus aus, schloss ab und kam lächelnd auf mich zu.
Unten angekommen, legte er einen Arm um mich und küsste mich auf die Stirn.
"Es ist einfach so wunderschön", schwärmte ich vor mich hin. "Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich jemals zweimal verlieben würde."
Harry sieht mich schockiert an und runzelt die Stirn. "Wie bitte? Hast du etwa jemand anderes kennengelernt?"
Ich lache laut los und schüttle den Kopf. "Ich meine das Meer, du Idiot!"
Auch er scheint zu begreifen und beginnt zu lachen. "Ach so."
"Harry, hast du etwa das Gefühl, ich wäre dazu fähig, mich in jemand anderes zu verlieben? Mit dir an meiner Seite?"
"Möglich wäre es schon...", murmelt Harry vor sich hin.
"Hör doch auf", gebe ich zickig von mir und drücke ihm meinen Ellbogen in die Rippen. "Du zerstörst den magischen Moment", weise ich ihn darauf hin.

Nach einiger Zeit, während der wir nur aufs weite Meer hinausgeschaut haben, drücke ich Harry einen Kuss auf die Wange und drehe mich zu ihm um. "Lass uns was essen", schlage ich vor.
"Gute Idee", stimmt er mir zu.
"Und danach sehen wir uns zusammen den Sonnenuntergang an", kommt es von mir.
"Wie bitte? Vergiss es! Das ist mir einfach zu kitschig", wendet Harry ein. "Das kannst du schön alleine machen."
Ich kichere, denn ich wusste genau, dass er für kein Geld der Welt mir mir den Sonnenuntergang ansehen würde. Mit überhaupt keiner Person. Harry steht nicht auf 0-8-15 Love-Stories. Endweder da steckt etwas besonderes dahinter, oder man kann es vergessen.

"Du weisst ich liebe dich Kleines, aber das geht zu weit", neckt Harry mich.
"Ich weiss", gebe ich zu. "Na komm, ich habe langsam Hunger."
Wir gehen nebeneinander her und machen es uns in der Fahrerkabine bequem.

Aus Paris haben wir, natürlich typisch, ein Baguette gekauft. Dazu noch Käse, Aufschnitt und was man halt so dazu isst.
Ich breche mir ein Stück vom Brot ab und reiche es Harry. Genüsslich beisse ich hinein, während Harry das Radio einschaltet.

"Some days, it's hard, to see.
If I was a fool, or you, a thief"

Ich höre auf zu kauen und konzentriere mich auf den Text des Songs.
Harry scheint dies bemerkt zu haben, denn auch er hört abrupt mit dem Essen auf und lauscht.

"Made it through the maze to find my one in a million
Now you're just a page torn from the story I'm living"

"Kleines?", fragt Harry vorsicht.
"Sei bitte still", unterbreche ich ihn sofort. Harry nickt und lehnt sich in seinem Sitz zurück.
Keine Ahnung weshalb, aber dieser Song berührt mich gerade auf unbeschreibliche Weise.
Ich widme mich wieder dem Text.

"And all I gave you is gone
Tumbled like it was stone
Thought we built a dynasty that heaven couldn't shake
Thought we built a dynasty like nothing ever made
Thought we built a dynasty forever couldn't break up"

Plötzlich bildeten sich Tränen, die über meine Wangen rinnten. Wieso konnte ich mich in diesem Song so stark wiedererkennen?
Meine Eltern haben mir ein Schloss vorgespielt, in dem sie mich schützen wollten, doch es zerbrach. Jedes einzelne Stück davon ist zerbrochen. Und was ist davon zurückgeblieben? Zerbrochene Herzen.
Hätte ich Harry nicht getroffen, wäre ich noch immer zuhause, womöglich würde ich gerade ein Buch lesen oder mit einen Staffel von "Reign" anschauen.
Doch stattdessen sitze ich hier, in einem kleinen Van, neben mir meine grosse Liebe, und vor mir erstreckt sich das grosse, weite Meer.

"Hey", ertönt es neben mir. Ich sehe Harry an und lächle.
"Wieso weinst du denn?", will er wissen.
"Weil ich einfach nur glücklich und traurig bin. Dieser Song hat mich daran erinnert, wie gut es mir geht, seit ich dich kennengelernt habe. Gleichzeitig bin ich aber traurig, da meine Familie zerbrochen ist."
Harry nickt mir verständlich zu und rückt etwas näher. "Komm her."
Ich kuschle mich an seine Brust und atme seinen Geruch ein. "Tut mir leid, dass ich immer weine", entschuldige ich mich.
"Du musst dich nicht dafür entschuldigen, ehrlich zu sein. Ich liebe es, dass du deinen Gefühlen freien Lauf lässt." Er küsst mich und streicht mit seiner Hand über meine Wange. "Alles ist gut, ich bin da."
Ich nicke und schaue wieder nach vorne aufs Meer.

"Das darf doch nicht wahr sein", rufe ich und setze mich ruckartig auf. Harry sieht mich fragend an.
"Siehst du es denn nicht? Wir haben den Sonnenuntergang verpasst!"
"Ooh da fühle ich mich aber seeeehr schlecht", grinst er. War ja klar, dass es ihm egal ist.
Und zugegeben, dieser Song hat mich einfach zu sehr abgelenkt. Dynasty
Warum habe ich dieses Lied noch nie zuvor gehört. Ein solcher Song hätte viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Noch dazu diese Stimme der Sängerin. Ich wünschte mir, ich könnte so gut singen.

"Bist du noch hungrig?", möchte Harry von mir wissen.
"Nein danke, ich bin satt." Mein Blick ist noch immer auf das Meer gerichtet. All die Autos, die hinter uns vorbeifahren, ignoriere ich.

"Ich brauche kurz einen Moment für mich selbst", sage ich entschlossen. Ich küsse Harry auf die Wange und öffne die Wagentür.
"Sei bitte vorsichtig", sagt Harry.
Schmunzelnd knalle ich die Tür zu und gehe hinunter zum Wasser.

Unten angekommen, setze ich mich in den Sand. Ich muss feststellen, dass Harry mich nicht sehen kann, wenn ich am Boden sitze, doch er weiss ja, dass ich hier bin.

Made it through the maze to find my one in a million

Die ganze Zeit schwirrt mir dieser Song im Kopf umher. Vorallem dieser Satz. Und sie hat ja recht;
Ich habe meinen "one in a million" gefunden, und das ist Harry. Mein Labyrinth stellte nunmal mein Leben dar. Und der Wald, in dem ich Harry gefunden habe.
Seit unserer Abreise hat er nicht mehr von seinem Vater gesprochen. Ob er wohl oft an ihn denkt?
Ich frage mich oft, ob Harry seinen Gefühlen je freien Lauf lässt. Würde er jemals über seine Probleme mit mir sprechen? Was ich mit Sicherheit weiss ist, dass er meine Bedürfnisse vor die seinen stellt. Das hat er schon immer, und er wird es auch immer so tun.
Während der Zeit, in der sein Tumor unser Leben beeinträchtigte oder gar bestimmte, ist Harry niemals auch nur einmal von meiner Seite gewichen. Er hätte mich auf keinen Fall alleine gelassen, egal wie sehr er darunter litt.

Ein etwas frischer Windstoss umhüllt mich. Ich ziehe mein Jäckchen enger um meine Schultern und sehe hinauf in den Himmel. Es ist bereits dunkel geworden und ein Meer voller Sterne leuchtet auf die Erde herunter. Jeder dieser Sterne steht für eine Seele, die von uns gegangen ist.
Welcher wohl Opa ist? Ich wette derjenige, der am hellsten von allen strahlt.

Da fällt mir ein: Werden meine Postkarten wohl bei Oma ankommen? Ich hoffe es, denn nichts ist schlimmer, als wenn sich die eigene Grossmutter Sorgen macht.
Ob Mama und Papa oft an mich denken? Werden wir uns jemals wieder vertragen?

"Was macht denn eine solch wunderschöne Frau ganz alleine hier am Strand?", ertönt plötzlich eine raue, perverse Männerstimme hinter mir. Und ich weiss ganz genau, dass dies nicht Harry's Stimme ist.
Im selben Moment durchzuckt ein Schmerz meinen Kopf.

Hey AngelWhere stories live. Discover now