Kapitel 1

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Kapitel 1

Mit geschlossenen Augen lehnte ich an der Stallwand neben dem Boxenfenster und ließ die warme Augustsonne auf mich hinab scheinen. Noch immer genoss ich jeden einzigen Sonnenstrahl auf meiner gebräunten Haut und versuchte dieses Gefühl in mich aufzunehmen, um es für regnerische Herbsttage zu speichern. Dass es nicht klappte, stellte ich jedes Jahr wieder fest, sobald die ersten dunklen Wolken den herbstlichen Himmel bedeckten und für ungemütliche Stimmung sorgten. Und doch versuchte ich es jedes Jahr wieder, unermütlich und vielleicht ein wenig kindlich naiv. Dabei war ich 16 Jahre alt, wurde demnächst noch ein Jahr älter und hatte fast den ganzen Sommer wie eine verantwortungsbewusste Erwachsene gejobbt. Ja, richtig gehört. Zusätzlich hatte ich sogar noch etwas Geld verdient, mein eigenes Geld und nicht das, was mein Vater jeden Monat für meine Zukunft anlegte. "Für dein Studium und dein erstes Auto. Du wirst es irgendwann gut gebrauchen können.", sagte er immer, wenn das Gespräch darauf kam. Studium... Darauf kam er jetzt. Ich war doch gerademal in der 11. Klasse, wie sollte ich denn jetzt schon wissen, was ich studieren wollte. Dennoch fragte jeder Erwachsene spätestens ab der 4. Klasse einmal jährlich danach, was man denn werden wollte, wenn man groß war. Als ob das heutzutage so einfach wäre. Ich hatte in der 4. Klasse keine richtige Antwort darauf gehabt und hatte sie auch heute noch nicht. Und damit war ich mit ziemlicher Sicherheit nicht vollkommen allein auf dieser Welt.

Hufgeklapper, das immer näher kam und schließlich nah bei mir verebbte, veranlasste mich dazu, meine Augen zu öffnen. Eine dunkle Pferdenase baumelte dicht vor meinem Gesicht und bließ mir warmen Atem entgegen. Augenblicklich zeichnete sich ein breites Grinsen auf mein Gesicht.

"Will.", gab ich erfreut von mir. Der Engländer lächelte von seinem Pferd auf mich herab.

"Schön, dich wiederzusehen, Isa. Wie waren deine holidays?" Er klopfte Cherno den Hals und schwang sich aus dem Sattel.

"Wunderbar. Fünf Wochen Föhr. Es war der pure Pferdesommer. Und Casi hat unglaubliche Fortschritte gemacht." Beinahe wäre ich ins Schwärmen gekommen und hätte jede Einzelheit erzählt, die ihn aber wahrscheinlich gar nicht wirklich interessierten. Doch ich hielt mich im Zaum. So wunderschön es auch gewesen war. Fünf Wochen auf der grünen Insel in der Nordsee. Fünf Wochen jeden Tag Arbeit mit Pferden. Zwar auch fünf Wochen höllischer Muskelkater, doch das hatte ich gern in Kauf genommen.

Gleich am zweiten Ferientag hatte mein Vater mich nach Föhr gefahren. Lissa hatte Casi und mich vom Hafen abgeholt und dann wurde mein Wallach in seiner reservierten Box neben Griffin einquartiert und ich auf ihrer Schlafcouch. Ihr Fuchs schien sich an seinen braunen Kumpel zu erinnern und hatte ihn freundlich angebrummelt als er vollkommen fertig von der langen Hängerfahrt die Stallgasse entlang getapst war. Schon beim Einladen in den Hänger hatte er ein wenig gestreikt, als wollte er mir mitteilen, dass es so langsam mal gut war mit dem ständigen herumgefahre. Doch zu seinem Glück durfte er nun erst einmal fünf Wochen Urlaub machen, an unzähligen Wettrennen am Strand teilnehmen und die Seele bei gemütlichen Inselritten baumeln lassen.

Ich hatte bei den Gruppenausritten als zweiter Aufpasser mitgeholfen, hatte Boxen gemistet und Pferde geputzt. Mein Lohn war natürlich einerseits eine kleine Finanzspritze, aber auch täglicher Reitunterricht, wenn ich ihn wünschte - aufgrund von Muskelkater hatte mir dann aber meist doch jeder zweite Tag gereicht. Seit dem Vergleichsturnier hatten Castello und ich uns weiter entwickelt. Ich vertraute ihm mehr als je zuvor und er vertraute mir, dass ich nichts von ihm verlangen würde, was er nicht auf bewältigen könnte. Nie hatte ich mich mehr mit einem Pferd verbunden gefühlt. Wir festigten unsere Fähigkeiten in Springen und Dressur, arbeiteten hart dafür, meine Hilfen noch geringer und seine Ausführungen noch schöner zu machen. Jonne Hansen, Lissas Vater, war ein außerordentlich guter Reiter und wohl das beste, was mir hätte passieren können. Zwar war seine Lehrmethode Zuckerbrot und Peitsche, doch das war ich ja bereits von Liam durchaus gewohnt.

Spanisches Temperament und andere ProblemeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt