Spanisches Temperament und andere Probleme

Kapitel 6

Seit gestern fühlte ich mich wie beflügelt. Alles schien mir leichter zu fallen. Sogar der Unterricht nervte nicht so sehr wie sonst und in Mathe hatte ich endlich mal das Gefühl, etwas zu verstehen. Heute stand zwar noch ein stressiger Tag an, aber ich betrachtete das alles wie durch eine rosarote Brille. Es würde schon alles nicht so anstrengend werden.

Nach dem Unterricht schlenderte ich mit Elli, Sophie und Eva rüber zur Kantine. Elli und Eva unterhielten sich über irgendeine Schabracke, die sie tauschen wollten. Sophie dagegen sah mich grinsend an. Als ich es bemerkte sah ich nur fragend zurück.

"Du siehst so glücklich aus. Ist mit Jas wieder alles gut?", fragte sie, während ich ihr die Tür zur Kantine aufhielt und sie hindurchging. Beinahe hätte ich die blöde Schwingtür einem der nachfolgenden vor die Stirn knallen lassen. An eine Versöhnung mit Jasper hatte ich heute nicht einmal mehr einen Gedanken verschwendet. Er war seit gestern beinahe wie ausradiert. Natürlich hatte ich ihn nicht vergessen, ich mochte ihn immer noch. Doch ich hatte mich von ihm ein Stück weit befreit, meine Gedanken waren endlich wieder frei.

"Nein, ich fühle mich nur einfach wieder frei. Endlich kann ich wieder durchatmen, ohne mich zu sorgen. Er will sich auf die Schule konzentrieren, dann konzentriere ich mich eben auf mich.", erklärte ich nun sachlich, bewusst ohne das Erlebnis von gestern Abend zu erwähnen. Eigentlich könnte ich Sophie alles erzählen und dennoch hatte ich Angst davor, dass sie mich in irgendeiner Weise verurteilte. Das war dumm, aber ich konnte nichts gegen diese Angst tun. Niemals würde Sophie mich verurteilen, dazu war sie gar nicht fähig.

"Ich bin jedenfalls froh, dass du nicht mehr so viel Trübsal bläst." Sophie lächelte fröhlich und stellte sich vor mir an der Schlange für das Essen an.

"Oh, ich auch, glaub' mir."

Nach dem Mittagessen musste ich mir gleich meine Reitsachen anziehen und zum Stall hasten. Denn ich hatte zwischen Unterrichtsschluss nur eine Stunde bis ich auf dem Pferd sitzen musste. Das hieß, mir blieben jetzt noch genau 20 Minuten - das konnte ja witzig werden. Aufgrund meiner vielen Verpflichtungen hatte ich mir den Unterricht bei Michael auf dem Geländeplatz so früh wie möglich gelegt. In Absprache mit Liam hatte er dafür auch Verständnis gehabt.

Casi musste heute mit einer Katzenwäsche der wichtigsten Stellen leben. Sattellage, Kopf und Beine genossen mehr Aufmerksamkeit, der Rest wurde nur einmal abgebürstet. Wobei Casi auch nur etwas staubig war und netterweise mal nicht dreckverkrustet. Dann folgten erst die neuen Geländegamaschen, die ich mir von meinem Sommereinkommen teilfinanziert hatte. Ich hatte schon kein Luxusmodell gewählt, aber die Dinger waren echt teuer. Das war mir vorher gar nicht klar gewesen.

Auf diese folgten dann Sattel, Vorderzeug und Trense - und schon schwang ich mich in den Sattel. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass das auch gerade rechtzeitig war. Am langen Zügel ging es also in zügigem Schritt zum Geländespringplatz, wo ich bereits von Michael erwartet wurde.

"Pünktlich wie die Maurer." Michael saß mit verschränkten Armen auf einem Baumstamm und grinste uns an. "Ich hatte da schon eine Ahnung. Dein Terminplan scheint aber auch wirklich voll zu sein."

"Kann man so sagen.", schnaufte ich beim Nachgurten. 

"Na, dann reite ihn erstmal ein bisschen geschmeidig, das brauchen wir für den Anfang."

Ich nickte, ritt an und begann, Casi dressurmäßig zu arbeiten. Das war auf dem Geländespringplatz gar nicht mal so einfach. Ich war es gewohnt, wenn auf einem Sandplatz um Hindernisse herum zu reiten. Hier gab es Baumstämme, Gräben und Auf- und Absprünge. Doch je länger ich auf dem Gras zwischen den Sprüngen ritt, desto mehr freute ich mich darauf, diese endlich anreiten und beweltigen zu können. Castello war aufmerksam und beobachtete den ungewohnten Anblick aus dem Augenwinkel, soweit es die Stellung am Zügel zu ließ. Gelegentlich hob er sich schon mal aus der Anlehnung, aber für das erste Mal wirklich hier reiten, war ich sehr zufrieden.