Ein Wörtchen mit dem Jugendamt

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Kiras Blick wanderte aus dem Fenster. Es war stockfinster. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie schon bei Kamei war, aber Kira war sich sicher, das es schon spät in der Nacht war. Viel zu spät. Seufzend lehnte sie den Kopf an die Wand und wandte sich nun an Kamei, die vor ihr ihr tägliches Training durchführte, zu dem sie am Tag nicht kam. Und, wenn Kira ehrlich war, konnte sie das bei diesem Haushalt nur zu gut verstehen. Mit 4 Geschwistern, 2 Hunden und einem besoffenem Vater war es gar nicht so einfach über die Runden zu kommen. Was Kira an Kameis angespannter Laune ablesen konnte.
"Meinst du wirklich, das ist die einzige Möglichkeit um Niena zu helfen?" fragte die 16 Jährige in die Stille, bloß unterbrochen durch das regelmäßige Schnarchen von Zimt und Zucker. Kamei beendete ihre letzte Liegestütze und setzte sich im Schneidersitz vor Kira, dessen Anwesenheit sie überraschend auflockerte. Seit Emilys Geburt hatte sie nicht mehr so viel Spaß gehabt, wie in diesen paar Stunden mit Kira.
"Es ist nicht die Einzige, aber die Sinnvollste" Seufzend zwang Kira sich ein Lächeln auf.
"Gut, dann werde ich das Jugendamt morgen kontaktieren"
"Du meinst heute" korrigierte Kamei sie. Ein weiteres Seufzen entwich Kira.
"Erinnere mich nicht dran" Jetzt warf auch die 17 Jährige einen Blick nach draußen. Es hatte angefangen zu regnen.
"Du kannst auch hier übernachten. Das ist kein Problem" Doch Kira schüttelte den Kopf.
"Nicht nötig, ich würde mir nur Vorwürfe machen, das ich Niena allein gelassen habe" Verstehend nickte Kamei.
"Dann bekommst du wenigstens einen Regenschirm und eine ordentliche Jacke. Wir wollen ja nicht, das du uns noch einmal krank wirst" Leise schmunzelnd nahm die Volleyballspielerin das Angebot an.

Zuhause angekommen, erwischte Kira sich dabei, wie sie sich wie ein Hund zu schütteln begann. Leise kichernd hängte sie die triefnassen Sachen auf und schlüpfte ins herrlich warme Wohnzimmer. Überrascht fand sie dort Niena und Lilien. Schlafend aneinandergelehnt sahen sie aus, wie eine Familie. Schmunzelnd sah Kira auf das Schachspiel, zu dem Lilien sie früher immer überredet hatte. Doch da Kira darin wirklich grauenhaft war, hatte sie abermals abgelehnt. Bis es ihnen irgendwann als exzellenter Staubfänger diente. Mit diesem ein wenig traurigen Gedanken, deckte Kira die Beiden zu und schlüpfte dann mit ihnen unter die Decke.
"Gute Nacht" flüsterte sie, schloss die Augen und wurde von einem erholsamen Schlaf eingeholt.
Am nächsten Tag, einem Samstag, setzte sie mit Kamei alle Hebel in Bewegung. Sie kontaktierten das Jugendamt, setzten diese ins Bild und einige Minuten später öffnete Kira einem Stellvertreter des Jugendamtes die Tür. Mit einem viel zu freundlichen Lächeln trat der rundliche Mann in das zuvor auf Vordermann gebrachte Haus ein.
"Es ist lange her, das wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wenn ich mich recht erinnere, warst du damals noch ein kleines Kind, als ich diese Bruchbude zum ersten Mal betreten musste" Kira ließ sich von ihrer aufbrodelnden Wut nichts anmerken. Niemand - und das meinte sie auch so - durfte ihr Zuhause beleidigen. Ganz gleich wie chaotisch und heruntergekommen es war. Es war immer noch ihr Zuhause. Und das würde sie mit ihrem Leben verteidigen. Heute jedoch schluckte sie jegliche Morddrohungen herunter. Schließlich brauchten sie dieses Arschloch.
"S-Setzt Euch. Ich mache einen Tee" Ihre Stimme zitterte bereits vor Wut, was Niena, die ebenfalls am Esstisch saß, nicht entging. Doch auch sie hatte ihre eigenen Probleme, sodass sie es nicht einmal zustande brachte Kira ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Lilien, die sich direkt neben Niena niedergelassen hatte, legte ihr nun beruhigend eine Hand auf den Oberschenkel. Aus ihren Gedanken gerissen blickte Niena in das sanft lächelnde Gesicht auf. Wenn sie dieses sanfte Lächeln sah, schienen all ihre Sorgen wie weggespült. Alles wirkte so nebensächlich, sodass Niena ihren Kopf klären und sich auf ihr eigentliches Ziel konzentrieren konnte. Grace.
"Kommen wir direkt zum Punkt. Du bist Niena Watanabe, korrekt?" Niena nickte, hörte den Wasserkocher aus der Küche und fühlte sich ein wenig sicherer. Sie war nicht allein. Kira und Lilien würden ihr den Rücken freihalten, bei allem was sie tat.
"Gut. Da wir am Telefon bloß die groben Züge klären konnte, würde ich von dir gern die Details erfahren" Niena öffnete den Mund, doch der Mann kam ihr zuvor.
"Seit wann hat Grace angefangen zu trinken?" Die 14 Jährige beantwortete all seine Fragen, spürte jedoch wie sich mit jeder weiteren ihre Kehle immer mehr zuschnürte. Bis sie irgendwann so in ihren Erinnerungen verloren war, das ihr Körper begann zu zittern und ihr Mund sich nicht bewegen wollte. Da half auch Liliens aufmunterndes Schenkelstreicheln nichts. Besonders nicht, als der Mann anfing sie im Laufe des Gesprächs in eine Ecke zu drängen.
"Hast du Verwandtschaft? Wo befindet sich dein Vater? Zu wem würdest du lieber gehen? War deine Mutter schon immer Verhaltensauffällig??" Niena spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Ihre Mutter war kein schlechter Mensch und sie wollte nicht, das man sie als solchen abstempelte. Sie wollte nirgendwo anders hin. Nicht zu ihrem Vater. Nicht zurück nach Australien zu ihrer Tante. Sie wollte hierbleiben. Mit Kira und Lilien. Und sie wollte, das Grace hier mit ihnen wohnte. Ihre Mutter. Ihre liebenswürdige, modebewusste und irgendwie schusselige Mutter, die sich viel zu sehr darum scherte was andere von ihr dachten. Doch all diese Worte blieben bloß in ihrem Kopf. Noch bevor der Mann sie dazu drängen konnte, weiter auszupacken, stellte man mit einer aggressiven Bewegung die Teetasse neben ihn. Zwei einschüchternde, grüne Augen blickten ihm in die Tiefen seiner Seele.
"Ich komme damit klar, wenn sie unsere Umstände runter reden, unser Zuhause beleidigen, sich über mich lustig machen. Aber, wenn Sie noch einmal so mit einem ihrer Kunden sprechen, werde ich Sie höchstpersönlich bei ihrem Chef melden. Denn ich meine mal irgendwo gelesen zu haben, das das Jugendamt einen einfühlsamen Umgang mit seinen Kunden pflegen sollte. Verstanden?" Der Mann musterte Kira, bevor er wortlos einen Schluck vom Tee nahm und die Tasse dann mit einem angewiderten Gesicht abstellte. Kira machte es sich auf Nienas anderer Seite bequem und verschränkte die Arme.
"Also gut, ich werde meine Kollegen informieren. Sie werden Grace noch heute einen Besuch abstatten, um die Richtigkeit ihrer Geschichte festzustellen. Aber bevor ich gehe, würde ich der Familie Shinayaka noch ein paar Fragen stellen" Ein unheilvolles Lächeln zierte sein Gesicht. Ein Lächeln, das weder Kira noch Lilien gefiel. Die Zwei sahen einander an. An diesem Thema kamen sie nicht vorbei. Egal, wie man es drehte und wendete, es war sein Job danach zu fragen und Kira hatte ihre Trumpfkarte bereits ausgespielt. Es gab keinen Weg daran vorbei.
"Meinetwegen..." murmelte die 16 Jährige daher leise, was das Lächeln des Mannes breiter werden ließ.
"Ich kam nicht umhin, zu bemerken das ein Mitglied ihrer fröhlich, munteren Familie seit meinem letzten Besuch zu fehlen scheint. Wo ist Herr Shinayaka?"
"Arbeiten" antwortete Kira.
"Als?"
"Er hat einen kleinen Laden auf die Beine gestellt. Ich helfe ihm ab und zu" Der Mann nickte verstehend, doch seine Augen verrieten das er ihr kein Wort glaubte.
"Was ist mit den zertrümmerten Bilderrahmen? Bei meinem letzten Besuch hingen sie voller Stolz an den Wänden, bestückt mit schönen Erinnerungen"
"Die Wände sind nicht das was sie mal waren. Irgendwann haben sich die Nägel gelöst und alle Bilderrahmen wurden zertrümmert. Die Bilder bewahren wir in einer Kiste auf und die Rahmen fanden wir zu schade zum Wegschmeißen, falls Sie das interessiert" mischte sich nun auch Lilien ein. Und obwohl es kein Schlupfloch in ihren Erklärungen gab, bestand der Mann darauf auf Herrn Shinayaka zu warten. Niena, die bisher gar nicht über einen Vater nachgedacht hatte, wünschte sich nun noch ein Schachspiel mit Lilien zu spielen, um die Antworten zu kriegen, die sie so sehr wurmten. Kira und Lilien, die deutlich nervös schienen, sahen einander mit einem Anflug von Panik an.
"Wann kommt Herr Shinayaka üblicherweise nach Hause?" Kira überschlug ihre Beine, um ihre Nervosität zu verbergen.
"22.30 Uhr, aber Samstags ist sowieso nicht viel los, deshalb kommt er meist früher"
"Dann bediene ich mich bis dahin ihrer Gastfreundschaft" Mit einem erzwungenem Lächeln, versuchte Kira ihre Feindseligkeit in Schach zu halten.
"Mit Vergnügen" zischte sie schließlich. Es dauerte einige Minuten, bis Lilien den verbitterten Mann soweit ablenkte, das Kira unbemerkt aufstehen und im Flur verschwinden konnte. Hastig wählte sie die einzige Nummer, die sie jetzt weiterbrachte.
"Ach, Madam entschließt sich dazu ihren Arbeitgeber anzurufen. Wie freundlich. Wo zur Hölle steckst du?!" Kira hörte sich Keishins Gemecker bis zum letzten Rest an. Sie hatte es verdient und auch ein wenig vergessen, das sie auch am Wochenende arbeiten musste.
"Es tut mir wirklich Leid, aber du musst mir jetzt einen Gefallen tun! Dafür werde ich auch so viele Überstunden machen, wie nötig" Keishin hörte sich ihren verrückten Plan an und antwortete entsprechend.
"Kannst du vergessen"
"Wirklich? Ich dachte bei unserem emotionalen Gespräch hättest du was in die Richtung von 'Ich bin immer für dich da' gesagt, oder täusche ich mich da?"
"Aber das ist Betrug! Außerdem sehe ich kein Stück wie ein Vater aus"
"Sagt wer?"
"Was hast du gesagt?" Nervös lachend, murmelte Kira etwas von 'nichts, nichts'. Es kostete Kira ihre besten Überredenskünste, doch schließlich stimmte Keishin zu. Vermutlich hatten ihn die Schuldgefühle in die Knie gezwungen, sodass er um 22 Uhr nicht einmal Zeit hatte zu klingeln, was wohl der erste Fehler gewesen wäre, fiel ihm später ein. Kira, die ihm hastig die Tür öffnete, musste bei seinem Anblick ihr Lachen zurückhalten. Da Keishin aus alten Spielen wusste, wie ihr Vater aussah, hatte sich der 26 Jährige dazu entschieden seine Haarfärbung auszuwaschen und die nun braunen Haare ohne das wie sonst typische Haarband in alle Richtungen abstehen zu lassen. Die meisten Haare jedoch versteckten das doch noch jugendliche Gesicht und gemeinsam mit dem Drei-Tage-Bart von dessen Kürzung Kira ihn gerade noch abbringen konnte, sah er aus wie ein richtiger Vater. Nur die grünen Augen fehlten. Doch dafür drückte Kira ihm die Lösung in die Hand. Kontaktlinsen. Eilig setzte er sie ein, mit dem nebensächlichen Gedanken, was er hier eigentlich tat.
"Papa ist da!!" rief Kira aufgeregt in den Flur und zog Keishin hinter sich her, wie sie es früher mit ihrem Vater gemacht hatte. Keishin, der früher schon das übermütige Motivationstalent des Shinayakas bewunderte, schlüpfte ohne jegliche Probleme in diese Rolle. Mit dem breiten Grinsen zu dem er früher aufgesehen hatte, wuschelte er Kira durch die pechschwarzen Haare, die sie eindeutig von ihrer Mutter hatte. Überrascht hielt Kira an und sah in die nun grünen Augen, die sie wie früher mit einer solchen Liebe anblickten, das es weh tat ihn auch nur eine weitere Sekunde anzusehen.
"Nicht so schnell, Prinzessin. Ich bin so jung nicht mehr" Kira warf ihm hastig einen verwunderten Blick zu, schüttelte diesen aufkommenden Gedanken jedoch ganz schnell wieder ab. Sie musste sich konzentrieren. Genauso, wie Keishin, der sich schon seit seiner Hinfahrt Gedanken darüber machte, wie er Lilien begrüßen sollte. Doch so viel Zeit gab man ihm gar nicht mehr, denn ehe er sich versah stand er auch schon im Esszimmer. Niena sah man den Schock sofort an und auch der Mann wirkte verwundert, als er die doch sehr große Veränderung sah.
"Sie... das..." versuchte er seine Worte wiederzufinden, während Keishin mit Herzrasen zu Lilien ging, ihr einen Kuss auf die Wange gab und eine Entschuldigung ins Ohr flüsterte. Doch Lilien schien bloß darüber hinweg zu lächeln. Es brauchte Keishins gesamte Selbstbeherrschung um nicht rot anzulaufen oder sich zu Kira umzudrehen, die ihn mit einem breiten Grinsen ansah. Stattdessen versteckte er sich hinter einer Geste, die Kiras Vater schon damals oft in seinen Interviews machte.
"Darf ich fragen, was hier los ist?" Kira verschränkte die Arme und durchbohrte den Mann mit ihren überlegen funkelnden Augen.
"Nichts, er wollte gerade gehen, nicht wahr?" Keishin stellte sich neben sie und gemeinsam wirkten sie wie ein Rudel Bären, bereit für ihr Steak zu töten. Es erinnerte Kira an früher, wo sie ein unzertrennliches Team waren. Als ihr Vater noch ihr Vorbild war und alles, wie am Schnürchen lief. Aber damit war es nun vorbei. Solche Zeiten würde es nie wieder geben. Dieser Gedanke versetzte Kira einen tieferen Stich, als sie erwartet hatte. Alles was sie noch von dem rundlichen Mann hörten, war ein Türeklatschen, womit Kira mehr als zufrieden war. Erleichtert ließ sie sich auf den Stuhl neben Niena fallen, die verwirrter nicht dreinblicken konnte, als Keishin die Kontaktlinsen entfernte und sich die Haare zurückband.
"A-Aber er... und Sie..." Leise schmunzelnd nahm Kira die ausgestreckten Ladenschlüssel von Keishin entgegen.
"Das Lager sieht schon wieder wie das reinste Chaos aus" meinte er bloß, bevor er sich verabschiedete und durch die Tür verschwand. In den Ohren Kiras Lachen, als diese Nienas verwirrte Fragen beantwortete. Seufzend schloss Keishin die Haustür und zündete sich eine Zigarette an.
"Verstehe, dann hatte ich also doch Recht. Mein Vorgesetzter wird erfreut sein von diesen Neuigkeiten zu erfahren" ertönte es neben ihm. Mit aufgerissenen Augen drehte Keishin sich zu dem rundlichen Mann um.
"Nett Sie kennengelernt zu haben, der Herr" Doch gerade als der Mann gehen wollte, hielt man ihn am Kragen fest. Keishin dachte an Kiras ersten Arbeitstag, an ihre Tränen, ihre Geschichte und den Schmerz, der sich in ihrem Herzen eingenistet hatte. Unweigerlich funkelte er den Mann bedrohlich an. Wenn er daran dachte, das dieser Mann Kira das letzte bisschen Hoffnung und Familie nehmen würde, das sie noch hatte, stieg eine unglaubliche Wut in ihm auf, die er in diesem Moment schärfte, wie ein Messer.
"Ein Wort zu irgendjemanden und man wird ihre Leiche nicht wieder finden, haben wir uns da verstanden?!" Doch der Mann wirkte gänzlich unbeeindruckt. Gelassen, nahm er Keishin die Zigarette aus dem Mund und trat sie aus.
"Ich erledige bloß meinen Job, das können Sie mir nicht vorhalten. Es wird das Beste sein" Bevor Keishin den Mund öffnen konnte, um zu widersprechen, schaltete sich eine neue Stimme ein.
"Das können Sie doch gar nicht wissen. Jedes Kind hat eine eigene Vorstellung von der perfekten Familie. Wenn sie von ihrer Mutter weggerissen werden, wird das keine Probleme lösen sondern nur welche verursachen. Egal, wie liebevoll und sicher die Person sein wird, die sich währenddessen um das Kind kümmert. Es wird sich immer nach seiner echten Mutter sehnen" Im Mantel der Dunkelheit erkannte man bloß die schneeweißen Haare, die zu der Stimme gehörten, welche nun ruhigen Schrittes auf sie zuging. Und dann ohne zu zögern die Faust in das Gesicht des rundlichen Mannes donnerte.
"Selbst wenn Sie gute Absichten haben, heißt das nicht, das auch etwas Gutes dabei raus kommt, wenn Sie sich einmischen" Erschrocken fasste sich der Mann an seine pochende Wange. Mit großen Augen sah er das Blut an seinen Fingern.
"Das... Ich verklage Sie!" Der weiße Teufel vor ihm fing an zu lachen.
"Wer ist jetzt das Kleinkind, huh?"

(Haikyuu FF) Volleyball ist ihr Leben!Where stories live. Discover now