Kapitel 60

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BENS SICHT

Sie nahm ihre Tasche, schulterte sie und verließ die Bahn, ohne sich nochmal umzudrehen. Eine ältere Dame blickte mich an, räusperte sich und blickte dann wieder aus dem Fenster. „Verdammt", seufzte ich. Nancy kam auf mich zu. „Alles in Ordnung?", fragte sie und setzte sich zu mir. Sie legte ihre Hand auf meine. „Sieht's so aus?", gab ich schnippisch zurück, wobei sie für diese Situation am wenigsten konnte. „Es war vielleicht nicht die beste Situation, dass sie davon erfährt. Aber jetzt wird es bergauf gehen!" Sie gab mir einen leichten Kuss auf die Wange und die ältere Dame uns gegenüber runzelte die Stirn. Als sie sich an der nächsten Haltestelle aufstand, um die Bahn zu verlassen, sah sie mir direkt in die Augen. „Ich denke, wenn ich das so sagen darf, dass Sie einen großen Fehler gemacht haben..." - „Ach, was wissen Sie denn bitte? Nichts wissen Sie!", rief Nancy ihr hinterher. Ich blickte aus dem Fenster und dachte nach. Ich dachte über die vergangene Nacht nach. Nachdem Milena eingeschlafen war, verließ ich leise das Zimmer und machte mich tatsächlich auf den Weg zu meiner Mutter, doch dann fielen mir die Nachrichten von Nancy wieder ein und wenig später saß ich bei ihr und ihrer Freundin im Hotelzimmer. Das zwischen uns hatte nie ein wirkliches Ende gefunden, wir hatten uns noch ein paar Mal getroffen und geredet. Mir war bewusst, dass sie in erster Linie ein Fan von mir war, aber auf der anderen Seite konnte ich bei Frauen eh nie zu 100% sicher sein, was sie von mir wollten und ob sie meine Musik oder mich als Musiker nicht auch kannten. „Ben? Hallo?", Nancy wedelte mir mit der Hand vor meinem Gesicht rum. „Hm?", antwortete ich. „Wir sind am Bahnhof, wir müssen raus!" Wir verließen die Bahnstation und ich zündete mir eine Zigarette an, ehe ich auf mein Handy schaute. SMS von Milena. „Weißt du, was das schlimmste an alledem ist? Nicht, dass es kein „wir" mehr gibt. Sondern die Tatsache, dass du mir gestern Abend eiskalt ins Gesicht gelogen und mich benutzt hast. Du kannst dir nicht vorstellen, wie dreckig ich mich fühle. Werd' glücklich mit Nancy, aber ruf mich nie wieder an, komm nicht mehr vorbei. Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben. Nie wieder." Ich schluckte und ließ das Handy sinken. Ich zog an meiner Zigarette, griff nach Nancys Hand und lief mit ihr zusammen zum Hauptbahnhof. 

Als wir am Bahnsteig auf unseren Zug nach Berlin warteten, sah ich ein paar Meter weiter Milena stehen sehen. Sie telefonierte, vermutlich mit Isi, und wischte sich alle paar Augenblicke mit einem Taschentuch die Tränen weg. Sie so zu sehen brach mir das Herz. Das war das allerletzte, was ich gewollt hatte. Ich wollte sie nicht verlieren, doch ich wusste, dass es irgendwann so kommen musste, schließlich war ich nicht so naiv zu glauben, dass ich die Sache mit Nancy auf Dauer geheim halten konnte – denn das wäre auch nicht fair ihr gegenüber gewesen. Der Zug fuhr ein und riss mich aus meinen Gedanken. Ich nahm meine Tasche und wir suchten uns ein freies Abteil, zum Glück war der Zug nicht so voll und wir blieben alleine, bis der Zug losfuhr. Doch plötzlich wurde die Tür aufgeschoben und Milena stand vor mir. Als sie mich sah, zuckte sie kurz zusammen. Sie schien nachzudenken, denn sie kaute auf ihrer Lippe herum. Doch dann griff sie nach ihrer Tasche und schob sie in die Ablage und setzte sich, genau mir gegenüber. Sie wischte die letzten Tränen aus ihrem Gesicht, suchte ihre Kopfhörer und würdigte mich keines Blicks. Nancy schaute abschätzig zu ihr rüber, lehnte dann aber ihren Kopf an meine Schulter und drehte sich zur Seite. „Ich werd mal ein wenig die Augen zumachen, Schatz, ich bin müde", sagte sie, wobei sie das Schatz extra laut sagte. „Okay, ich weck dich, wenn wir da sind...", gab ich gedankenverloren zurück.

Nach einer Weile hielt ich diese unangenehme Stille, diese Spannung nicht mehr aus. „Milena... es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du das..." - „Nein, hör auf, mir irgendetwas erklären zu wollen, Benjamin. Ich glaube dir kein Wort mehr. Wie könnte ich auch?" Sie zog sich die Kopfhörer aus den Ohren und sah mich an. In ihren Augen bildeten sich erneut Tränen. „Gestern erzählst du mir noch, wie froh du bist, bei mir zu sein. Dass ich dir gefehlt hab. Du hast gesagt, dass du mich liebst." - „Das tu ich auch, Milena. Glaub mir. Ich liebe dich... und du hast mir gefehlt..." - „Hast du vergessen, warum es so zwischen uns war? Warum wir keinen Kontakt hatten? Weil du mit ihr geschlafen hast..." Als sie das sagte, schaute sie zu Nancy rüber, die scheinbar tatsächlich eingeschlafen war. „Und dann denke ich, dass ich dir noch eine Chance geben kann, dass ich dir vielleicht sogar vergeben kann, dass du mich betrogen hast. Aber du nutzt mich nur aus, hast Sex mit mir und bist am nächsten Morgen verschwunden. Weil du wieder bei ihr warst. Was bin ich für dich? Eine nette Abwechslung? Benjamin, ich liebe dich. Aber du hast das scheinbar nicht begriffen, wie sehr ich für diese Beziehung zu dir gekämpft habe. Was ich alles ertragen, akzeptiert und verziehen habe. Erst Caro, dann jetzt Nancy... Und dann lügst du mich eiskalt an, erzählst mir, du seist bei deiner Mutter... dabei sitzt du Händchen haltend mit deiner Neuen in der Bahn..." Die Tränen liefen über ihre Wangen und sie sah mir direkt in die Augen. „Erzähl mir bitte, nach all dem, wie ich dir noch ein einziges Wort glauben soll..."

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