Kapitel 1

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Ich stütze meine Hände am Waschbecken ab und betrachte mich im Spiegel. Der Spiegel ist dreckig und milchig. Mein Gesicht wirkt blass, genauso farblos wie die weißen Fliesen an der Wand. Mein Mund ist trocken und doch habe ich keinen Durst.

Ein Seufzen entgleitet meinen Lippen und ich stoße mich von dem Waschbecken ab, hebe meinen Rucksack auf und verlasse die Schultoilette. Der Geschmack nach Erbrochenen in meinem Mund ist übel, doch heute morgen war ich noch guter Dinge gewesen. Hatte die Zahnbürste zu Hause gelassen.

Die Pause ist längst vorbei und ich haste zu meinem Kurs. Ich klopfe, entschuldige mich für meine Verspätung und lasse mich auf meinen Stuhl neben Ben fallen. Ben mustert mich fragend, doch ich erwidere seinen Blick nicht, sondern packe meinen Ordner aus dem Rucksack.

Ben ist so etwas wie mein Freund, doch Ben hat eigentlich keine Freunde. Er ist sehr beliebt, doch hat ein ernstes Problem seine Aggression in Schach zu halten. Die drei vier Typen, die immer um ihn herumschwirren, kann man nicht als Freunde bezeichnen. Und Ben ist nur so etwas wie mein Freund, weil wir uns noch nie verabredet oder ein richtiges Gespräch geführt haben.Doch ich scheine irgendeinen Einfluss auf ihn zu haben, denn wenn er sich prügelt, werde ich geholt um ihn zur Vernunft zu bringen. Jedes Mal wirft er nur ein Blick in meine Augen und vergisst seine Faust den Schlag ausführen zu lassen.

Irgendwann ist natürlich das erste Mal gewesen, doch ich erinnere mich nicht. Plötzlich war es einfach so gewesen, dass ich geholt wurde, um ihn zu stoppen. Es hatte sich so eingespielt. Irgendwer hatte mal behauptet, Ben wäre schwul und deswegen auf mich fixiert, doch Ben hatte alles abgestritten.

Ben und ich kennen uns seit der fünften Klasse und doch waren wir nie bis zu einem Gespräch gekommen. Ich bin jedoch auch noch nie der Typ für Freundschaften gewesen.

Während der Unterricht sich zum Ende schleppt, notiere ich mir die wichtigsten Informationen, die der Lehrer von sich gibt. Auf so etwas habe ich schon immer Wert gelegt.Aber seit meiner Diagnose, schreibe ich alles akribisch mit, damit keine Zeit unbenutzt bleibt.

Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie Ben mich beobachtet. Ich schmunzele. Es klingelt.

„Taehyung", sagt Ben plötzlich und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Mein koreanischer Name klingt seltsam aus seinem Mund, doch ich verdränge den Gedanken.Erwartungsvoll sehe ich zu Ben, verziehe meinen Mund zu einem Lächeln.

„Versuch es mit Tae, ist einfacher",erwidere ich und drehe mich zu ihm. Er sitzt noch immer auf seinem Platz, hat sich auf seinem Stuhl jedoch komplett mir zugedreht. Ben ist wunderschön. Braune Haare, seine Augen blau. Er hat feine Gesichtszüge, die nicht wirklich zu seinem harten Charakter passen.Volle Lippen sitzen unter einer geraden Nase.

„Alles klar." Er blinzelt einige Male, dann blickt er mir wieder direkt in die Augen. „Wollen wir etwas zusammen unternehmen?"

Überrascht hebe ich die Augenbrauen;mein Lächeln vertieft sich.

„Jetzt?", frage ich und packe meine Sachen in den Rucksack. Es ist still im Klassenraum. Dieser Kurs ist der letzte gewesen, für beide von uns. Wir sind alleine.

„Ja, jetzt. Ich hatte überlegt, ob wir in die Stadt gehen könnten", erwidert Ben und erhebt sich von seinem Stuhl. Ich erhebe mich ebenfalls und schultere meinen Rucksack. Ben ist nur ein kleines Stück größer als ich.

„Dann los", sage ich nur und wir verlassen gemeinsam das Klassenzimmer.

Während Ben neben mir läuft, bemerke ich, wie er immer wieder unbewusst gegen meine Seite stößt. Unsere Schultern treffen sich und ich muss lächeln.

„Dein Lächeln ist wunderschön, Taehyung."

„Tae."


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ocean eyes | taehyung [ completed ]Where stories live. Discover now