SECHSTER AUGENBLICK

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(Mit diesem Kapitel bin ich nicht ganz zufrieden, aber mit dem Nächsten dafür umso mehr.)

Statt etwas zu sagen, sehe ich das Mädchen vor mir nur fragend an.  
Sie hat sich zu mir hinüber gebeugt, ihr Kinn auf einer Hand abgestützt, einige dunkle Haarsträhnen hängen ihr ins blasse Gesicht.

"Hey, bist du nicht der Typ von gestern?"

In plötzlichem Erkennen wandern meine Augenbrauen nach oben.

Schmächtig, blass, matschbraunes Haar. Das U-Bahn-Mädchen.

Ich presse die Lippen aufeinander und mustere sie, nicht gerade unauffällig, bevor ich antworte.

"Mag sein."

Im Tageslicht kann ich erkennen, dass ihr Haar nicht ganz so sehr die Farbe von Matsch hat, wie ich gedacht habe.
Es sieht eher so aus, als  wäre es eine Mischung aus rot, braun und irgendeinem seltsamen Bronzeton.
Eigentlich ist sie sogar recht hübsch.

"Vielleicht", brumme ich, gebe mich desinteressierter, als ich tatsächlich bin. Denn ich will verdammt nochmal Antworten auf all meine Fragen haben.
Und gleichzeitig will ich nicht mit ihr sprechen.
Immerhin kenne ich nicht einmal ihren Namen.

"Vielleicht?" wiederholt sie. "Nicht vielleicht, definitiv!"
Ich zucke leicht mit den Schultern. "Mag sein..."

Ich wende mich ab und starre stattdessen auf die Uhr.

Der Zeiger mag sich bewegen, doch statt Minuten scheinen nur Ewigkeiten zu vergehen.
Als ich dann endlich erlöst werde, verlasse ich das Klassenzimmer beinahe fluchtartig.

Wie immer lasse ich mich auf einer der Mauern nieder, die den Innenhof der Schule bilden.
Außer mir ist niemand hier, was vermutlich daran liegt, dass es eisig kalt ist und dunkle Regenwolken am Himmel hängen.
Ich mag Regenwetter.
Es entspricht meiner Laune.

Ich lehne mich gegen eine der Steinsäulen und ziehe die Beine an. Meine Knie stehen spitz hervor. Ich schließe die Augen und lehne meine Stirn an die Knie.

"Du magst Geschichte wohl nicht besonders, oder liege ich da falsch?"

Ich schrecke zusammen und sehe auf.

U-Bahn-Mädchen.

"Nicht wirklich. Sind doch eh schon alle tot."

Sie lacht leise auf und lässt sich mir gehenüber auf der Mauer nieder, die Beine im Schneidersitz verschränkt.

"Und du fndest nicht, dass tote Menschen es wert sind, über sie zu sprechen?" will sie naserümpfend wissen.
Nicht wirklich, denke ich, doch statt es auszusprechen, zucke ich nur schweigend mit den Schultern.

Mittlerweile weiß ich, dass es manchmal das beste ist, den Leuten einfach recht zu geben, statt eine Diskussion auszulösen.
Zumindest wenn man kein Interesse daran hat, mit ihnen zu sprechen.

Das Problem ist nur: Ich will mit ihr sprechen. Ich will endlich wissen, was gestern in ihr vorging, was das alles sollte. Ich will wissen, wieso ausgerechnet ich derjenige sein musste, der sie vor dem Tod bewahrt.
Aber ich bringe all meine Fragen nicht über die Lippen.

U-Bahn-Mädchen lehnt sich gegen die Steinsäule und legt den Kopf in den Nacken, die Augen geschlossen, als würde sie die nicht vorhandenen Sonnenstrahlen genießen.

Für die nächste halbe Stunde sitzen wir einfach nur da, und jeder hängt seinen Gedanken nach.

Während ich sie dabei beobachte, wie sie langsam ein Sandwich auspackt und hineinbeißt, frage ich mich, was sie wohl denkt.
Wieso verbringt sie ihre Pause ausgerechnet mit mir, wenn es so viele andere Leute gäbe, deren Gesellschaft sicher um einiges angenehmer wäre, als die meine.
Niemand hält es wirklich lange mit mir aus.

Wieso ist sie mir nie aufgefallen? War sie vorher überhaupt schon hier? Wenn nein, wieso sitzt sie dann plötzlich einfach im Klassenraum, mitten im Schuljahr, an einem Mittwoch?
Mittiget geht es verdammt nochmal gar nicht.

Sie sieht auf, als hätte sie meinen Blick gespürt.

"Was denkst du?"

Ich frage mich, ob du genauso sehr mit mir sprechen möchtest, wie ich mit dir.

"Ich hasse Schule."

Wenn wir sterben - oder wie man das Leben spieltWhere stories live. Discover now