ZWEIUNDVIERZIGSTER AUGENBLICK

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Schließlich bleibt sie vor einer Bank stehen und lässt sich darauf fallen, nur um mich neben sich zu ziehen.

Ich brauche einige Sekunden, bis ich die Bank wiedererkenne. Die Liste.

Weil Grace vorerst nichts sagt, schließe ich die Augen und nehme einen tiefen Atemzug der eisigen Waldluft.
Es duftet nach vermoderten Blättern und Tannennadeln; würzig und irgendwie...geheimnisvoll .
So wie auch Grace für mich so scheint, als würden sich unendlich viele Geheimnisse in ihr verstecken.

"Grace...es tut mir leid." platzt es plötzlich aus mir heraus. Ernst sehe ich sie an. Und das meine ich wirklich so. Mir tut es leid, dass ich so ein dummer Idiot bin.
Ein Idiot, der zu viel nachdenkt und in jede kleine Geste, jedes gesprochene Wort, zu viel hinein interpretiert.

Sie legt eine Hand auf meinen Arm und schüttelt langsam den Kopf. "Nein, mir tut es leid. Ich muss mich bei dir entschuldigen, nicht du bei mir! Du hast verdammt nochmal recht damit, dass eine Freundschaft auf Vertrauen basieren sollte, nicht auf gegenseitigen Geheimnissen voreinander. Nur...nur kann und will ich meine eigenen Geheimnisse einfach nicht wahrhaben."

Ich verstehe, was sie meint. Mir geht es doch genauso. Die Geheimnisse, die man vor sich selbst hat, sind doch immer noch die schlimmsten.
Weil man sie vor sich selbst nicht geheim halten kann. Man kann nicht einfach darüber hinweg schauspielern und so tun kann, als wäre nichts.
Und dennoch versucht man es.
Aber ich kann ihr einfach nicht böse sein.
Ihre Augen sind einfach viel zu blau, und ihre Haare sind einfach viel zu rot, und sie ist einfach viel zu sehr sie selbst.

"Ich war magersüchtig, bin depressiv und habe versucht, mich umzubringen", lasse ich in einem einzigen Schwall heraus. Und auch, wenn das eigentlich nicht zu übersehen ist und Grace das vermutlich sowieso schon weiß, fühlt es sich gut an, es endlich gesagt zu haben.
Also stimmt das Sprichwort doch: Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung. Dr. Hill hat wohl recht.

Und irgendwann in dieser Freundschaft müssen wir ja einmal anfangen, die Dinge klar auszusprechen.

Grace lächelt mich an und für einen winzigen Augenblick glaube ich tatsächlich, dass das mit uns eine besondere Geschichte werden wird.
Doch dann entdecke ich den traurigen Zug in ihrem Lächen, und was dann geschieht, lässt das glücklich- vorsochtige Grinsen aus meinem Gesicht kippen, denn ihre nächsten Worte nehmen mir die Luft zum atmen: "Ich habe nur noch drei Monate zu leben, Jasper."

Verdammt, Ehrlichkeit kann so weh tun.

Wenn wir sterben - oder wie man das Leben spieltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt