Nachwirkung

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Bevor ich einschlief weinte ich in meinem Bett noch ein bisschen, doch es war eher ein erleichtertes Weinen. Es war so als ob eine große Last von mir abgefallen war, die ich seit Ewigkeiten mit mir rumgeschleppt hatte. Natürlich war das ganze Problem nicht behoben aber immerhin musste ich Harry nicht mehr anlügen.

Als ich meine Augen aufschlug war es noch dunkel. Ich ging zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Die Straßen waren menschenleer und die wenigen parkenden Autos schimmerten im schwachen Schein der Straßenlaternen. Ich gähnte müde und ließ mich auf mein Bett fallen.Der Wecker zeigte 6:15 Uhr an. Viel zu früh. Im ganzen Haus war kein Mucks zu hören und ich schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Ich trug nur eine schwarze Leggins und ein helles Top. Fröstelnd griff ich nach meinem Kapuzenpulli der noch auf der Couch lag, und zog ihn mir über. Ein kleiner Morgenspaziergang wäre jetzt genau das richtige. Schnell schlüpfte ich in meine Stiefel und versuchte dabei so wenig Krach wie möglich zu machen um Mum und Dad nicht zu wecken. Ungeschminkt und die Haare zu einem zotteligen Dutt nach oben gesteckt lief ich in gleichmäßigen Schritten die Straße zum Park entlang. Die frische Luft beruhigte mich irgendwie und ich ließ mir alles, was gestern passiert war nochmal durch den Kopf gehen. Harry würde bei mir bleiben, ganz bestimmt. Über dem See kreisten ein paar Krähen und lösten bei mir ein unbehagliches Gefühl aus. Eigentlich war ich ja nicht der Typ der sich bei den kleinsten Dingen fürchtete doch diese extrem ruhige Landschaft und die Rufe der schwarzen Vögel empfand ich als äußerst unangenehm.
Montag ( 14:00 Uhr )

Heute hatte mich Mum dazu verdonnert in der Cafeteria zu essen weil sie es schöner fand wenn ich "mit meinen Freunden" aß und nicht alleine zuhause. Tja wenn das mit den Freunden mal so einfach wäre....

Und hier saß ich nun, ganz allein an einem weißen Tisch, vor mir einen Teller labbriger Nudeln mit Pesto und ein Glas Wasser. Ich merkte die verstohlenen Blicke der anderen Schüler und versuchte einfach so zu tun als würde ich von all dem nichts mitbekommen. Allerdings war das nicht sonderlich einfach wenn die Abneigung der Leute so offensichtlich war. Ein paar Mädchen aus der Klasse unter mir redeten über mich und erwähnten dabei immer wieder das Wort 'Schlampe'
Ich hasse diese Menschen. Ich hasse jeden einzelnen.

Als ich von meinem Essen hochsah, wendeten sich gerade ein paar beschämte Blicke weg. Ich würde nie wieder Freunde finden. Nie wieder. Unter Anstrengung versuchte ich meine Tränen zurückzuhalten und mich auf diese unglaublich spannenden Nudeln zu konzentrieren. Wenn Harry doch nur da wäre. "Du? Hier?" Vany war an meinen Tisch gekommen und setzte sich provokant auf die Kante. Ich stöhnte unhörbar und warf ihr einen genervten Blick zu. "Du warst ja nicht gerade nett zu mir letztens. Der Kratzer am Hals ist immer noch da", sagte sie und neigte ihren Kopf um mir die Wunde zu zeigen. "Mein Gesicht hat auch ziemlich unter dir gelitten", gab ich trocken zurück und spießte ein paar Nudeln auf die Gabel. Sie zuckte nur verächtlich mit den Schultern. "Du hast es gar nicht anders verdient. Achja und noch was: Solltest du dir so was nochmal erlauben darfst du dich im Internet in einem 4 Minütigen Clip bewundern"

Ihre Stimme klang angespannt und voller Wut. Ich schluckte meinen Bissen herunter. "Merks dir du Schlampe", rief sie noch zum Abschluss, nahm die Salatesoße neben meinem Teller ubd kippte sie mir über mein Oberteil. Ich schrie kurz auf und stieß meinen Stuhl zurück. Die Leute kicherten und als Vany an ihren Tisch zurück ging wurde sie von den Mädchen erstmal mit Schulterklopfern und Gelächter empfangen. "Der Bitch hast du's gezeigt", rief Liz und klatschte sich mit Vany ab. Ich packte meinen Mantel und lief mit zusammen gebissenen Zähnen nach draußen. Vany war einfach das Schlimmste was mir je passieren konnte. Unkontrolliert liefen die Tränen über meine Wangen und ich konnte nichts dagegen tun. Ich fühlte mich so unglaublich ohnmächtig. Zuhause angekommen wechselte ich tränenverschmiert mein Oberteil und ließ mich weinend aufs Bett fallen. Wieso hassten sie mich alle so? Total aufgelöst ging ich zum Schrank und holte die Pappkiste herunter in dem sich mein kleiner Drogenvorrat befand. Mit dem Tütchen Heroin ging ich in die Küche und zündete eine Kerze an. Mum und Dad würden heute wahrscheinlich wieder bis spät in die Nacht arbeiten und ich war ungestört. Als ich einen kleinen Teil erhitzt hatte und es wie eine flüssige Pfütze aussah, nahm ich Mum's Arzneispritze aus dem Verbandskoffer und zog die Flüssigkeit mit zittrigen Fingern in die Spritze. Damit ging ich ins Badezimmer und stellte mich direkt unter die Lampe. Jetzt musste ich nur noch treffen. Vorsichtig setzte ich an meinem Arm an und stach dann genau in die grünlich verlaufene Ader. Es war ein kleiner Piks, doch nicht weiter schlimm. Als auch der letzte Tropfen in meinem Blut war, wusch ich die Spritze sorgfältig ab und legte sie in den Pappkarton. Zur Beruhigung zündete ich mir eine Zigarette an und ging in mein Zimmer. Umhüllt von einer sanften Rauchwolke lag ich auf meiner Matratze und merkte wie ich etwas schläfrig wurde. Es war dieses leicht betäubende Klopfen an meinen Schläfen und das sanfte Kribbeln, das meinen Körper wie tausend kleine Ameisen erfüllte. Ich ließ meinen Kopf aufs Kissen sinken und stieß den Rauch aus. So schlimm war die ganze Sache ja gar nicht. Nur ein bisschen Streit in der Schule...nichts weiter. Es würde sich schon irgendwie legen. Plötzlich schien mir die ganze Sache mit den Fotos und den Videos wie ausgeblendet. Es war einfach so, als würde sich ein warmes weiches Tuch auf meiner Seele ausbreiten, das all die Sorgen überdeckte. Langsam hob ich meine Hand und spielte mit dem Rauch. Das Klingeln meines Handys ertönte wie eine Sirene. Müde schreckte ich hoch und griff zum Nachttisch. "Hallo?", fragte ich in den Hörer und versuchte mit einer Hand eine weitere Zigarette aus der Schachtel zu ziehen. "Baby ich bin's", sagte Harry sanft und seine Stimme klang angenehm rau. Ich gähnte. "Hey, wie geht's?" Kurze Stille. Dann antwortete er: "Ganz gut eigentlich. Und dir? Besser als gestern?" Mit einem Lächeln erhob ich mich von der Matratze und ging zum Fenster. "Liebling du wirst es nicht glauben aber mir geht es toll. Ich habe über die ganze Sache nachgedacht und bin zu dem Entschluss gekommen dem Ganzen einfach etwas Zeit zu geben. Das legt sich schon wieder", verkündete ich fröhlich. Harry schien verwirrt zu sein. "Was? Aber Amanda das geht doch nicht. Du wirst erpresst und..." "Ach Harry", unterbrach ich ihn und zündete mir erneut eine Zigarette an. "Das ist alles gar nicht so schlimm wie ich es gestern dargestellt habe. Mir geht's großartig und ich lege jetzt mal auf. Ciao Babe" Noch bevor er irgendetwas erwidern konnte hatte ich bereits auf den Auflegeknopf gedrückt und mein Handy auf den Teppich schlittern lassen. Ich musste grinsen. Ich konnte fast gar nicht mehr aufhören. Wann war ich das letzte mal so glücklich gewesen? Gut gestern Abend war ich glücklich, als ich in der Basketball Halle und beim Essen für einen Moment alles vergessen konnte. Aber dieses Glück fühlte sich anders an. Ich fühlte mich irgendwie vollkommen. Gut gelaunt ging ich zu meinem weißen Schminkschränkchen, setzte mich mit übereinander geschlagenen Beinen auf den kleinen Hocker und begann meine Nägel in einem klassischen Rot zu lackieren. Die Zigarette lag immer noch zwischen meinen Lippen und meine Finger zitterten leicht.

SMOKEWhere stories live. Discover now