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~ Niels' Sicht ~

Ich sah den orangenen und braunen Blättern dabei zu, wie sie langsam zu Boden segelten, wie der Wind sie weitertrieb und wie sich die letzten noch in den Bäumen hielten. Der Herbst hatte Hamburg mittlerweile komplett eingenommen und färbte die Stadt in seine warmen Farben.
Emil an meiner rechten Hand kickte eine Kastanie vor sich her, während er zwischen seinem Vater und mir durch den Planten un Blomen Park spazierte und ununterbrochen aufgeregt von einem neuen Mädchen aus seiner Kindergartengruppe erzählte. Johannes sah leicht überfordert zu mir 'rüber und zuckte hilflos mit den Schultern.
"Da hat's wohl jemanden so richtig erwischt", bemerkte ich grinsend und wuschelte mit meiner freien Hand durch die braunen Haare des Fünfjährigen, der daraufhin mit verzogenem Gesicht zu mir hochsah: "Ih, nein, spinnst du?!" Ich lachte nur auf und Emil schmollte für den Rest des Weges.
"Kleine Zicke", scherzte Johannes schmunzelnd. "Ganz der Papa", entgegnete ich und entlockte Emil damit tatsächlich ein kurzes, zuckersüßes Lachen.
Wir erreichten den großen Spielplatz des Parks, wo der Kleine sich sofort von mir und Jo losriss und auf eine Gruppe von Mädchen zustürmte, die ungefähr in seinem Alter sein mussten und im Sand spielten.
"Das wird noch ein richtiger Aufreißer." - "Ganz der Papa", wiederholte mich Johannes stolz lächelnd und stieß mir seinen Ellenbogen in die Seite, ehe wir beide auflachten und uns auf eine naheliegende Bank setzten, von der wir Emil gut im Blick hatten.

Das kurze Vibrieren von Jos Handy unterbrach unsere Diskussion über die besten Alben der vergangenen Monate. Er kramte sein iPhone aus seiner Hosentasche, entsperrte das Display und öffnete den Chat von Jakob und ihm.
"Ob wir den Weltenbummler wohl jemals wieder länger als zwei Wochen sehen werden?", grinste ich beim Betrachten des Fotos aus Asien, das Jakob seinem besten Freund geschickt hatte. Seit Beendigung unserer Unpluggedtour vor circa einem Jahr pendelte der Schlagzeuger ständig zwischen Deutschland und sämtlichen asiatischen Ländern hin und her, verbrachte den Großteil seiner Zeit aber tatsächlich im Osten.
"Vorerst vermutlich nicht", zuckte Johannes mit den Schultern, während sein rechter Mundwinkel nach oben wanderte. "Solange er Anfang nächsten Jahres da ist, um am neuen Album zu arbeiten, kann er machen, was er will." - "Vielleicht trifft er ja eine heiße Asiatin und schmeißt Revolverheld, um komplett auszuwandern", scherzte ich, was Johannes auflachen ließ: "Ja genau, unser Jakob wird sesshaft und verlässt seine heißgeliebte Band - soweit kommt's noch." Allein die Vorstellung war so absurd, dass wir sie sofort wieder verwarfen und Jakob zur Antwort einfach ein Selfie von uns beiden schickten, auf dem Johannes mir einen Kuss auf die Wange drückte und darunter schrieb: 'Amüsier du dich mal in Kambodscha - ich hab' hier auch meinen Spaß ohne dich😉'

Kaum war das Bild abgeschickt, stürmte Emil auf seinen Vater zu und sprang ihm auf den Schoß. Der ganze Sand, der an seiner Kleidung klebte, verteilte sich nun auch auf Johannes' Hose.
"Willst du meinen Sandkuchen probieren?", fragte der Kleine aufgeregt und zog an den Bändeln von Jos Kapuze. Dieser rieb sich über seinen Bauch und atmete schwer aus: "Puh, ich bin immer noch so satt vom Mittagessen. Aber vielleicht will Niels ja; der hat heute eh nur gefrühstückt, stimmt's?" Er wackelte mit den Augenbrauen und grinste frech in meine Richtung, ich warf ihm - von Emil unbemerkt - einen bösen Blick zu und wurde kurz darauf erwartungsvoll mit großen Rehaugen, die der Fünfjährige definitiv von seiner Mutter geerbt hatte, angesehen.
"Ich bin auf Diät", log ich notgedrungen, worauf Johannes sich ein Lachen unterdrückte und Emil traurig nach unten blickte. "Aber wie wär's, wenn wir zur Rutsche gehen?" Sofort strahlten seine Augen wieder und er nickte vehement, sprang von Jos Schoß und griff nach meiner Hand, um mich hinter sich her zu ziehen. Im letzten Moment boxte ich dem Sänger gegen den Oberschenkel und forderte ihn mit meinem Blick auf, mitzukommen.

Ungefähr eine halbe Stunde lang spielten wir mit dem Zwerg, fingen ihn am Ende der Rutsche auf und setzten ihn wieder nach oben, kitzelten ihn oder jagten ihn einmal um den Spielplatz.
Die niedliche Lache, die Emil dabei fast pausenlos von sich gab, konnte einen wirklich alles vergessen lassen; ich liebte den Kleinen fast wie einen eigenen Sohn.
Als einer von seinen besten Freunden plötzlich auftauchte, konnten Jo und ich erstmal wieder verschnaufen. Ich zog Emil noch schnell den Reißverschluss seiner dicken Jacke wieder bis oben hin zu und dann lief er direkt zur Wippe, wo Rico schon auf ihn wartete. Stöhnend ließ ich mich neben Johannes wieder auf eine der Bänke fallen und legte meinen Kopf in den Nacken.
"Emil vergöttert dich immer mehr", bemerkte Johannes und ich wusste nicht, ob ich da vielleicht verletzten Stolz hinaus hören sollte.
"Ich kann halt gut mit Kindern." Selbstüberzeugt grinsend stieß ich ihm in die Seite.
"Und trotzdem wartet ganz Deutschland darauf, dass du selbst mal welche bekommst", scherzte Jo. "Aber vielleicht wird das ja irgendwann." Ich zwang mich zu einem schiefen Grinsen, zog die Augenbrauen hoch und murmelte ein knappes "Hm, ja. Vielleicht", ehe ich das Thema wechselte.

*****

Nachdem ich letztens Endes quasi den kompletten Sonntag mit Emil und Johannes auf dem Spielplatz, einem Café und bei ihnen Zuhause mit Anna verbracht hatte, war mir am darauffolgenden Tag ziemlich langweilig und jede Minute kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor.
Gegen Mittag schrieb Kris in die WhatsApp-Gruppe der Band: 'Karli will wohl nicht, dass ich an meinen Songideen feile - dann mach' ich halt Zwangspause.'
Direkt darunter erschien ein Foto von seinem Hund, der sich demonstrativ auf Kris' Gitarrenkoffer gelegt hatte. Ich schmunzelte, überlegte einen kurzen Moment und raffte mich schließlich auf.

"Was machst du denn hier?", fragte Kris verwundert lachend, als er mir gerade die Tür geöffnet hatte und ich nur dämlich grinsend vor ihm stand.
"Kann ich 'reinkommen?" Er nickte schulterzuckend und trat einen Schritt zur Seite, sodass ich in seinen Wohnungsflur eintreten konnte, wo ich aus meinen Schuhen und meiner Jacke schlüpfte.
Kris schloss die Tür wieder hinter sich und drehte sich mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck zu mir um: "Wohnzimmer?", bot er mir freundlich an, da er wahrscheinlich davon ausging, ich hätte ihm irgendeine spannende Neuigkeit zu erzählen, wenn ich schon so spontan und unangemeldet bei ihm aufkreuzte. Mein rechter Mundwinkel zuckte nach oben, ich machte einen großen Schritt auf Kris zu, raunte "Schlafzimmer" und presste im nächsten Moment meine Lippen auf seine, die sich dort so wunderbar vertraut anfühlten.
Ich spürte Kris' Grinsen, während er mich langsam zur richtigen Tür schob und er sich nur kurz von mir löste, um mir meinen Pullover auszuziehen: "Natürlich, das hätte ich mir auch denken können", lachte er leise auf, bevor ich ihn wieder zum Schweigen brachte.

Mehr als wir beide sindWhere stories live. Discover now