Eins: Die Chance

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Da stand sie. Mitten im Klassenraum ihres Physik-Kurses und das ohne jegliche Ausrede im Hinterkopf.

,,Josephine, hast du uns nicht etwas zu sagen?'', fragte mich der junge Lehrer im blauen Hemd mit einer reichlich genervten Stimme. Schließlich war die brave Josephine in letzter Zeit dank ihrer frisch verliebten Mutter oft genug zu spät gekommen. Ausgerechnet schon drei Mal in der ersten Stunde am Dienstag.

Herr Fall blickte mich erwartungsvoll an, wobei ich von jetzt auf gleich ganz nervös wurde. Meine Glieder fingen leicht an zu zittern und ich kratzte mich unsicher am Unterarm. Dabei wurde mein Rücken unvermittelt zu einem kleinen Buckel. Ganz zu Schweigen von den spöttischen Blicken meiner Mitschüler.

Der Fremden.

Er deutete auf meinen freien Stuhl in der zweiten Reihe und ich verstand, dass ich mich setzen sollte, um den Unterricht nicht weiter zu stören. Ich reflektierte meine Gedanken und ich vermerkte, dass ich bei nächster Gelegenheit dringend ein Gespräch zu meiner Mutter suchen sollte.

Dadurch, dass meine Mutter vergessen hatte, mit unserem Hund Goeffrey, Gassi zu gehen, war ich dazu gezwungen mit ihm eine kleine Runde zu drehen, damit man nicht am Nachmittag einen braunen Haufen vor der Haustür vorfand. An dem Tag hatte ich Pech und der blöde Köter tat sich sehr schwer damit, sein Geschäft zu erledigen. Als das dann auch irgendwann erledigt war, blieb kaum Zeit eine Kleinigkeit zu essen oder sich anständig fertig zu machen. Deshalb ging ich nicht gerade gepflegt oder gesättigt aus dem Haus um den letzten Bus zu meiner Schule zu erwischen. Offensichtlich hatte das dann auch nicht geklappt und während ich auf den Bus, der erst 20 Minuten nach dem Klingeln an der Schule antraf wartete, holte ich mir noch ein einigermaßen anständiges Frühstück beim nächsten Bäcker.

Nichts desto trotz saß ich nun an meinem Tisch und konnte mich überhaupt nicht auf den Unterricht konzentrieren. Ich war schlichtweg erleichtert, als es dann klingelte und ich so schnell wie möglich wieder aus dem Klassenraum herausstürmen konnte. Im Flur angekommen, fasste ich mir mit meiner vor Aufregung kalten Hand, an meine offenbar glühende Stirn. Was für ein wohles Gefühl, welches mir für einen kurzen Moment den Glauben schenkte, mein Kopf würde gar nicht mehr wehtun. Doch das tat er und das bekam ich den ganzen restlichen Tag zu spüren.

Ich sammelte meine Gedanken und gerade als ich dabei war, mich auf den Weg zu der Toilette zu machen, um mir dort erst einmal das Gesicht mit kaltem Wasser zu erfrischen, wurde eine Hand auf meine Schulter gelegt. Ich fuhr herum und sah zu meinem Erstaunen die Schulsprecherin Tara, die auch mit mir im Physik-Kurs gewesen war.

Sie funkelte mich mit ihren blauen Augen an, die offensichtlich zu viel Wimperntusche abbekommen hatten, und schien einen kurzen Moment nachzudenken, was sie mir eigentlich sagen wollte.

,,Hey, du bist doch Josy stimmt's?'', fragte sie mich unsicher und ich merkte ihr an, wie unangenehm ihr die Situation gerade war. Nicht nur ihr.

,,Ja ... wieso?'' Tara ging einen kleinen Schritt auf mich zu und in dem Moment konnte ich ihr sehr schweres, offenbar teures Parfüm riechen. Außerdem trug sie einen creme weißen Pullover, der ebenfalls höllisch teuer gewesen sein musste. ,,Naja, ich habe mich gefragt, ob du am Freitag noch nichts vor hast. Da steigt eine Party bei mir zu Hause und da du mir richtig nett scheinst, dachte ich, ich lade dich auch mal ein.''

Mir blieb erstmal die Spucke weg. Noch nie hat mich irgendjemand von den Beliebteren zu irgendetwas eingeladen und erst gar nicht angesprochen. Gerade deshalb wusste ich nicht, was ich antworten sollte, denn einerseits wollte ich nicht gerade so eine Chance verpassen, auch mal Freunde zu gewinnen und andrerseits machte es mich stutzig, dass gerade das beliebteste Mädchen der Schule, mich fragte, ob ich auf ihre Party kommen mochte. Tara Wilet hatte noch nie zuvor mit mir gesprochen, außer einmal, als sie mich aus Versehen angerempelt hatte, weil sie ein anderer Junge aus Spaß geschubst hatte. Sie hatte sich lachend entschuldigt, mir aber keine weitere Beachtung geschenkt.

Ich merkte, wie sie gespannt auf meine Antwort wartete. ,,Ich weiß es ist kurzfristig, es wäre aber echt toll, wenn du dabei wärst'', fügte sie noch hinzu, wobei ich etwas Mitleid mit ihr bekam. Da stand sie schon vor einer fremden Person, fragte sie eine pikante Frage und erhielt einfach keine Antwort. Ich riss mich zusammen und antwortete eher leise und unüberlegt: ,,Ja, gerne würde ich kommen.''

Sie strahlte nun über das ganze Gesicht und gerade in dem Moment kam ein weiteres Mädchen dazu, das größer als Tara selbst war und deshalb problemlos den Arm um ihren Nacken legen konnte. Dabei fing Tara an sie an theatralisch zu grinsen und ohne sich davon stören zu lassen, beäugte mich das neue Mädchen eher kritisch.

Sie trug eine falsch herum aufgesetztes Cap, dazu ein offenes Karohemd und zerrissene Jeans. Und nicht zu vergessen hatte sie einen dunkelroten Lippenstift aufgetragen.

Tara bemerkte die etwas seltsame Situation und blickte mich ein wenig entschuldigend an. ,,Das ist Josy, Josy das ist Mara.'' Ich lächelte Mara schüchtern an und reichte ihr die Hand. Sie erwiderte es und aus einem Händeschütteln wurde ein spontaner Kumpelhandschlag.

,,Alles klar bei dir?'', fragte sie mich mit einer kratzigen Stimme. Ich nickte und blickte zur Seite, wobei ich ganz genau wusste, dass da eine Uhr war. In ungefähr einer Minute fing meine zweite Stunde an, in der ich Mathe hatte. Ich wurde etwas nervös.

,,Hör mal zu'', sagte Tara plötzlich und legte eine Hand auf meine Schulter, ,,die Party fängt um 21 Uhr bei mir an. Ich wohne von der Hauptstraße aus im dritten Haus direkt am See. Du wirst es nicht übersehen können.'' Ich malte mir aus, wie ihr Haus aussah. Bestimmt ultramodern, verglast und riesig. Ich konnte mich erinnern, dass ich schon mal in dieser Gegend mit meinem Hund spazieren war und, dass so ziemlich alle Häuser dort so aussahen.

Ich lächelte sie nickend an und schon entfernten wir uns von einander. Als uns gerade vielleicht zwei Meter trennten, hörte ich noch Tara rufen: ,,Komm' nach der Schule zum Parkplatz!''

Gewusst, dass ich gemeint war, drehte ich mich noch einmal um und runzelte die Stirn. Tara hingegen verblieb in ihrer Position, weshalb ich einen Schritt auf sie zukam.

,,Wieso auf den Parkplatz?'', fragte ich unsicher und hoffte, dass ich nicht allzu blöd rüber kam. Schließlich wusste die ganze Schule, dass der Parkplatz der einzige Ort ist, wo man in Ruhe eine Zigarette anzünden durfte.

,,Um mit meinen Freunden abzuhängen'', antwortete dann Tara, als wäre es das selbstverständlichste. Doch das war es nicht. Ganz und gar nicht.

Dennoch nickte ich dann, sodass die Beiden verstanden, ich würde kommen. Ob ich das dann tatsächlich tun würde, wusste ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht.

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Eine Nuance echterWhere stories live. Discover now