Von der Zerstörung der Hölle und Schneemännern

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Niemals hatte man damit gerechnet, dass die Temperaturen mitten in der Hauptstadt den Gefrierpunkt erreichen würden, vor allem deswegen, da niemand ihrer Bewohner mit einer anderen Temperatur als kochend heiß vertraut war. Nun hielt der Schnee seit mehreren Sternenwechseln unerbittlich Einzug und weiße Massen eiskalter Chemie befielen nach und nach den einst trockenen, dampfenden Boden der Hölle. Die Hauptstadt war ein einziger Trümmerhaufen. Die einst hohen Steingebäude waren fast wie auf eine Höhe abgesäbelt worden, kein einziges von ihnen stand noch vollständig, ein Beweis für die Luftgefechte, blutige Gefechte, die nicht nur von denen ausgetragen wurden, die dem Bataillon des Sataä und Goä angehörten, sondern vor allem von all jenen, die gehofft hatten, ihren Besitz gegen die feindlichen Armeen verteidigen zu können. Die leeren Straßen bewiesen das Gegenteil. Wenn man von den Steinruinen des Zentrums fort und zu den Außenbezirken blickte, bot sich einem ein noch schrecklicheres Bild dar, denn die notdürftigen Unterkünfte der Sklaven, Baracken, die meistens die Größe einer ordinären Hundehütte nicht überschritten, waren vollständig verschwunden. Obwohl die Bunker, die sich unter der Hauptstadt befanden, sofort nach dem Beginn der Bombardements geöffnet worden waren, um zuerst die Sklaven zu evakuieren (Was nützte einem eine starke, doch habgierige Oberschicht, wenn niemand mehr da war, der sie bediente?), war der brodelnde Boden anstelle der Baracken mit Leichen übersät. Leichen, die ihren Seelenkern verloren hatten und somit rechtlich als Nachschub für die Ewigen Flammen qualifiziert waren, ein letzter, ehrenvoller Zweck, dem sie dienen konnten. Zum Glück waren zu jeder Zeit Scharen von Beamten damit beschäftigt, die leeren Hüllen einzusammeln und in die hungrigen Flammen zu kippen, um dem Frost zumindest ein wenig Widerstand leisten zu können. In den restlichen sechs Bezirken der Hölle sah die Lage ähnlich aus, zum Teil sogar erheblich schlimmer, denn der Sataä hatte ausdrücklich den Schutz der Hauptstadt als oberste Priorität formuliert – Eine Entscheidung, die die Fürsten der anderen Bezirke, die zu vier Fünfteln aus Sklavenplantagen bestanden und einen geringen Adelsanteil besaßen, mit einem Zähneknirschen akzeptiert hatten.

Er zitterte, als sich seine Hand fester um den Griff seines Rapiers schloss, er den Blick geradeaus richtete, und den Schneesturm vor seinen Augen ins Visier nahm. Es schneite in der Hölle – Mehr als nur metaphorisch gesehen. Die handgroßen Flocken, die dicht und mit einer halsbrecherischen Geschwindigkeit den glühenden Boden beschossen, mussten für jedes kleine Teufelchen, das sich mit den Gesetzen seines Heims einigermaßen auskannte, eine absolute Sensation sein, wenn auch keine wirklich erfreuliche.
Schnell ging er in Gedanken seine Optionen durch, glücklicherweise arbeitete sein Verstand unter Druck auf Hochtouren, und kam schnell zu dem Entschluss, dass er Dilou finden musste, bevor es jemand anderes tat, der wahrscheinlich eine Menge Spaß daran haben würde, seine blutigen Knochen als Zahnstocher zu benutzen. Gideon Naige schnalzte mit der Zunge, blickte sich noch ein letztes Mal nach allen Seiten um, und stürzte sich schließlich mit einem mehr oder weniger theatralen Schrei in die Schneemassen.

„Dilou!" Der Name seines Freundes verlor sich im peitschenden Wind. Verdammt noch eins, wenn er den Kerl nicht bald ausfindig machen würde, würde er mit einem Knochenhaufen heimkehren, das wusste er. Er erklomm das Dach eines Hauses, während er sich an den riesigen Schneehaufen, die meterhoch reichten, hinauf hangelte, und verfluchte diesen ganzen Krieg aufs Bösartigste– seine Flüche waren in der Lebendigen Welt das Hauptmaterial für Alpträume. Auf dem breiten Flachdach angekommen richtete Gideon sich auf und blickte suchend zu den anderen Häuser und Gassen, die er nun problemlos überblicken konnte. Weit und breit war offensichtlich Panik ausgebrochen, als das Schneebombardement Einzug gehalten hatte, die Bewohner der sonst gut beheizten Hölle hatten sich augenblicklich auf den Weg zu den Schutzbunkern, die sich in der Nähe des Teufelsbezirkes befanden, gemacht, und dabei vergessen, dass Panikmache sie nicht schneller dorthin beförderte. Gideon lehnte sich ein Stück über das Dach, um besser Teufel von Teufel unterscheiden zu können, doch von Dilou war noch immer keine Spur. Gideon erkannte mit einem mürrischen Fluchen, dass er seine Zeit verschwendete, und sprang mit einem entschlossenen Satz auf das nächste Flachdach, auf dem er kurz innehielt, um seine Planung zu überdenken. Wo konnte Dilou sein, wenn nicht auf dem Weg zu den Bunkern? Vielleicht war er bereits dort und Gideon hatte ihn verpasst? Er beschloss, wenn auch von starken Zweifeln an seinem Plan geplagt, seine Suche bei den Bunkern fortzusetzen, und sprang von Dach zu Dach, parallel zu der schreienden Masse, die sich überraschend schnell fortbewegte.
Nachdem er das Spiel für ein paar Minuten mitgespielt hatte, hörte er gerade noch rechtzeitig das ohrenbetäubende Rauschen von Flammen, und sprang zur Seite, bevor ein riesiger, glühender Feuerball direkt auf seiner vorherigen Position auf dem Dach einschlug, und der Boden unter Gideons Füßen bedrohlich erzitterte. Er fuhr herum, um die Quelle der Störung ausfindig zu machen, und erkannte am gläsernen Himmel der Hölle eine Person mit schwarzem, langen Haar, etwa fünfzig Meter von ihm entfernt, dessen Körper mit einer dichten, roten Masse überzogen war. Gideon kniff ungläubig die Augen zusammen. Er war sich sicher, dass das, was er sah der Wahrheit entsprach, auch wenn es keine rationale Erklärung dafür gab. Der Kerl brannte. Ihm wurde klar, dass er sofort hier weg musste, wenn er den heutigen Tag überleben wollte. Er befand sich unwiderlegbar auf Kriegsgebiet.
Ein weiterer flammender Koloss durchschlug hinter ihm eine Glaswand, dem Geräusch nach zu urteilen, doch Gideon befand sich schon lange nicht mehr an dem Ort, an dem er zuvor über Dilous Verbleib sinniert hatte. Er rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, und bemerkte, dass er Todesangst hatte. „Gideon!" Mit einem Ruck blieb er stehen und fixierte seine Umgebung. Jemand hatte seinen Namen gerufen, und die Stimme dieses Jemanden hatte erschreckende Ähnlichkeit mit dem eines gewissen Teufels.
„Dilou!", schrie Gideon verzweifelt und sprintete in die Richtung, die sein innerer Kompass ihm wies, in dem Fall zurück in die Kampfzone, wie er mit sich ins Unermessliche steigernder Sorge bemerkte. Wo zur Hölle war Dilou? Als Gideon ein weiteres Mal seinen Namen vernahm, wusste er, dass seine schlimmste Sorge sich bestätigt hatte. „Ich komme, Dilou! Ich bin gleich da!" Gideon biss die Zähne zusammen und schlug sich weiter durch den Schnee und brennende Häuserfetzen, während ihm Möbelstücke, Leichenteile und glühende Funken um die Ohren flogen. Sein Herz schlug im Takt der unaufhörlich um ihn herum einschlagenden Feuerbälle, er rechnete jede Sekunde damit, seinen Freund unter einem der trostlosen Trümmerhaufen um ihn herum zu erblicken, seine letzten Worte nicht mehr zu verstehen und ihn aufgrund der Bombardements schließlich zurücklassen zu müssen. Er versuchte vergeblich, diese Vorstellungen aus seinem Gedächtnis zu verbannen und rannte weiter. „Dilou!", schrie er immer wieder, mehr, um sich zu beruhigen, als sonst etwas.
Gideon kam schließlich zu einem runden Platz und taumelte kurz unter der Anstrengung. Er stützte sich auf einen aus dem Boden ragenden Eisenpfeiler und sammelte seine Kräfte, um seine Suche fortzusetzen, als über ihm etwas Unerwartetes geschah.

„Stirb!", schrie eine Stimme, die vor Hass nur so zu triefen schien, direkt über Gideon, der nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte, sondern direkt von einer eiskalten Lawine erfasst und zu Boden geschleudert wurde. Hart schlug er auf der unnachgiebigen Erde auf, die ungewohnte Kälte ließ ihn kurz aufschreien, und seine Sinne schwanden. Er sah nach oben und registrierte gerade noch so, dass die Attacke nicht ihm gegolten haben konnte. Über ihm waren nun zwei Männer in der Luft zu sehen, der eine war der gleiche, dem Gideon auf dem Flachdach begegnet war. Wilde Flammen schossen aus jeder seiner Poren, so schien es, und sein Gesicht war zu einem schmerzhaften Grinsen verzerrt, wie Gideon nun aus der Nähe bemerkte. Ihm gegenüber schwebte sein vermeintlicher Gegenspieler, der in gleißendes, hartes Blau gehüllt war, und wahrscheinlich mit für den Schneesturm verantwortlich war, der die Hölle seit dem Ausbruch des eisig-höllischen Krieges heimsuchte, wie die stürmisch wirbelnden Flocken, die seinen Körper und sein Gesicht verbargen, vermuten ließen. Gideon stöhnte auf vor Schmerz und rollte sich langsam zu einer Kugel zusammen, um seine Organe zu schützen, wie er es gelernt hatte. Er wollte nicht sterben. Seine Seele verlieren. Nichts war es, das er mehr fürchtete. Vor seinem inneren Auge sah er bereits die Ironie des Schicksals, wie er selbst nur einige Meter neben seinem Freund gefunden werden würde. Wie nahe sie sich in ihren letzten Momenten gewesen waren, würde man sagen, bevor sie beide von den Ewigen Flammen verschlungen und vergessen werden würden. Mit letzter Kraft riss Gideon die Augen auf, doch dann verstarb er, als seine Organe schließlich doch von einer neben ihm umstürzenden Hauswand plattgedrückt wurden.

„Wir müssen nicht so kämpfen!" Nigreg schrie den flammenden Massen entgegen, als müsse er auch sie von seinen Argumenten überzeugen, was ja auch irgendwie stimmte, da er ihren Meister vor sich hatte. Seine bisherigen Argumentationen hatten allesamt in diesem unnötigen Krieg gemündet, deswegen war nun Vorsicht geboten, wenn auch die Wahrheit warten musste. Trotzdem war seine Aussage keine Lüge: Er wollte wirklich nicht so kämpfen, denn obwohl der Anblick der Hölle etwas ganz anderes vermuten ließ, stand es gar nicht gut um ihn und seinen Schnee. „Ihr habt es selbst genau so gewollt, Nigreg!" Der lodernde Flammenkörper schoss ihm entgegen und feuerte. Nigreg gelang es in letzter Sekunde, hinter eine Hauswand zu flüchten, und diese somit zu einem Dasein als Asche und Rauch zu verdammen. „Hört auf, Euch zu verstecken! Wer seid Ihr, dass ihr den Krieg als Spiel begreift, aus dem Ihr nach Belieben aussteigen könnt? Ihr irrt Euch gewaltig!", tobte der Feurige, und schoss wie blind um sich. Nigreg rechnete sich hinter einer anderen Hauswand blitzschnell seine Chancen aus. Alle Prognosen deuteten darauf hin, dass er dem Feurigen nicht standhalten würde, weder heute, noch sonst irgendwann in naher Zukunft. Trotzdem. Er würde nicht verlieren.

Mit einem Blick, der schon oft getötet hatte, besah Miryar seine Umgebung und war bereit, sofort zu feuern, sobald er Nigreg vor seine lodernde Flinte bekam. Heute war es soweit, daran bestand kein Zweifel, und die Hitze in seinen Adern spornte Miryar zu Höchstleistungen an. Er wollte, ja, er brannte geradezu darauf, das ihm verhasste Wesen endlich unschädlich zu machen. Es wurde höchste Zeit, schließlich hatte er unzählige Stunden damit verbracht, seine Kräfte zu sammeln, und Plan um Plan seinen gerechten Gegenschlag zu entwerfen. Sollte die Hölle doch einmal frei nach dem Sprichwort richtig schmoren. Oder ging das nicht anders? Miryar grinste breit, während selbst seine Zähne Funken sprühten. „Miryar!" Er fuhr herum und stand plötzlich Nigreg gegenüber. Miryars Grinsen gefror augenblicklich. Gerade als er zu einen flammenden Schlag gegen den eisigen Mann ausholen wollte, zog Nigreg blitzschnell einen leuchtend weißen Dolch hervor und schob ihn sich zwischen die Zähne. Miryar hörte nur, wie stumpf Eis auf Eis prallte, es knackste einmal kurz hässlich, und dann zerplatzte Nigregs Kopf vor Miryars Augen. Einfach so. Miryar starrte ihn an, sah, wie Nigregs Hand sich ein letztes Mal in seine Richtung bewegte, und dann erschlaffte und leblos in der Luft hinab baumelte. Miryar fing den kühlen Leib, der vor ihm ansonsten vom Himmel gepurzelt wäre, reflexartig auf, und ließ sich selbst ebenfalls auf den Boden herabsinken.
Gewiss, es war ein kluger Trick von Nigreg gewesen, daran bestand kein Zweifel, doch solange die Glut noch heiß war, würde Miryar diese feige Flucht vereiteln. Er sah sich um. Um ihn herum stand noch immer der Großteil der Gebäude und Straßen in Flammen, doch an einigen Dachfürsten hatte sich eine letzte Eisschicht in ihren müden Atemzügen an die Ziegeln geklammert. Ein seltsames Bild, so voller Gegensätze, doch dieser widerliche Zustand würde glücklicherweise bald ein Ende haben. Miryar legte Nigregs kopflosen Rumpf auf den Steinboden ab und begann, die Leichen, die um ihn herum wie die Schneeflocken kreuz und quer verteilt lagen, zu inspizieren. Er hatte eine genaue Vorstellung von dem, was er suchte, auch wenn er sich sicher war, dass er mitten auf dem Schlachtfeld nicht fündig werden würde, doch einen Versuch war es wert. Selbst wenn die meisten hiervon den Verlust ihrer Seelen nicht überstehen würden, guter Brennstoff waren sie alle, doch einer von ihnen musste doch geeignet sein. Bevor noch irgendein höllischer Idiot Nigreg für tot erklären würde, wollte er die Dinge selbst in die Hand nehmen. Nach wenigen Augenblicken weitete sich endlich Miryars Blick. Ein paar Meter abseits fand er, inmitten eines runden Marktplatzes, ein Behältnis, das sich perfekt zur Aufbewahrung der sich noch in seinen Fingern windenden Seele eignen würde. Miryar tätschelt die Stirn des verrußten, ansonsten jedoch halbwegs zusammenhängenden Jungen und tat, was er tun musste.
Dann hob er ihn auf, lud ihn sich auf die Schultern und löste sich mit einem gleißenden Funkensprühen in Schall und Rauch auf.  

Die Gesetzgeber - Leise rieselt der Schnee *Arbeitstitel*Tahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon