Von kaputten Sanduhren und Fabius' Eifersucht

7 0 0
                                    

Es war still in der Stadt. Fabius wusste, dass die Lautstärke hier gering gehalten wurde, weil das angeblich das Stresslevel senkte, also konnte zumindest diese Veränderung der Gefilden nicht ihre Schuld sein. Trotzdem war ihm ein wenig mulmig zumute, angesichts der Tatsache, dass sie sich auf Gebiet befanden, auf das kein Teufel es jemals zuvor gewagt hatte, einen Fuß zu setzen. Bis man dazu gezwungen worden war.
„Das Wolkenschloss liegt direkt vor uns.", knurrte die tiefe Stimme seines Kaisers dicht hinter ihm, und holte Fabius durch einen gehörigen Schrecken in die Realität zurück. Er neigte den Kopf gefühlt fast bis zum Boden, als er sich umdrehte und eine zustimmende Grußformel murmelte. Als er jedoch aufsah, bemerkte er, dass Miryars Worte überhaupt nicht an ihn gerichtet waren. Einige Meter hinter ihm hatte er den fremden jungen Mann am Arm gepackt und redete mit schnellen, zischenden Mundbewegungen auf ihn ein. Na super. Wieso hatte er eigentlich überhaupt damit gerechnet, von Miryar angesprochen zu werden? Neidisch betrachtete Fabius, wie Miryar, sich anscheinend in Rage redend, überhaupt nicht aufhören konnte, den Jungen verbal zu bombardieren, und wünschte sich insgeheim, nur ein einziges Wort von ihm wäre an ihn gerichtet gewesen, anstatt an diesen ignoranten, dahergelaufenen Sklavenjungen, der er letztlich sein musste. Fabius zuckte zusammen, als er bemerkte, wie giftig seine Worte klangen. Wieso fühlte er sich so angegriffen von dieser Konversation? Entschlossen zuckte er die Achseln und tadelte sich dafür, dass er sich wie ein hochnäsiges Arschloch verhielt. Miryar war ein, nein, er war der Sataä, das bedeutete, dass er tun konnte, was, mit wem und wann immer er es wollte. Fabius war sein treuer Diener. Sein Kaiser war sein Kaiser, und Fabius' Loyalität diesem gegenüber bis zu mindestens hundert Meter tief wasserdicht.
Sie erreichten tatsächlich sehr bald danach das eisig-himmlische Wolkenschloss, das seinem Namen alle Ehre machte. Nicht nur, dass es tatsächlich aus den grundsätzlichen, molekularen Bestandteilen von Wolken zusammengesetzt war, mehr noch, es handelte sich um eine Art optimierte Wolkenformel, auf deren Basis das stabile, isolierende Material des Schlosses erschaffen worden war. Für Fabius, der zum ersten Mal in seinem Leben so viel Andersartigkeit und ein quasi omnipräsentes Maß an Helligkeit auf einmal erblickte, war dieses Schloss der Inbegriff der Befremd- und Abscheulichkeit. Wie konnten existierende, denkende, vernunftbegabte Wesen nur unter solcher ästhetischer Geschmacksverirrung leiden? Einmal mehr konnte er sich einen weiteren Grund für die völlig überraschende Kriegserklärung der himmlischen Gefilde erschließen, wobei dies eine Frage war, die wohl niemand außer dem ehemaligen Engelstreiber Nigreg jemals würde beantworten können. Der Krieg, der zwischen den beiden gegensätzlichen Territorien der Nicht-Lebendigen Welt durch eine scheinbar grundlose Kriegserklärung der eisig-himmlischen Gefilde wie vom Zaun gebrochen worden war, beschäftigte ihn eigentlich nur noch unterschwellig und wenn er träumte. Dann griff sein Unterbewusstsein tief in die Trickkiste der Bewusstmachung und zauberte Horrorvorstellungen und Todesmöglichkeiten zutage, über die Fabius in der wachenden Welt nur auflachte, die ihn während er schlief jedoch zutiefst verstörten. Dann wachte er auf, schweißgebadet, und verfluchte dieses Etwas in ihm, das noch menschlich war, seine Seele, und sich weigerte, sein neues Leben zu akzeptieren. Er war noch nicht sehr lange ein Teufel, seit wenigen Sternenwechseln, um genau zu sein, doch irgendwie war er von den Ewigen Flammen fort hin zum höllischen Adel gelangt, durch einen guten Freund, den er seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Deswegen war ihm die Lebensweise der höllischen Bewohner noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen, obwohl so vieles daran nicht annähernd dem Bild der Hölle entsprach, wie er sie sich vorstellte. Nun fragte er sich, was mit den eisig-himmlischen Gefilden geschehen würde, jetzt, da ihr Goä gefallen war. Würde Miryar mit dem Kaisertitel auch die Regierungsgeschäfte beider Dimensionen übernehmen? Und selbst wenn er dies tun würde, wie sollte er als Sataä eine zutiefst andersartige Bevölkerung regieren, die Demokratie erhalten, Frieden schließen? Oder war es möglich, das Sklaventum einfach auf die eisig-himmlischen Gefilden zu übertragen? Fabius wusste es nicht, doch der Gedanke an eine Angleichung der beiden Rahmendimensionen des Universums erschien ihm falsch. Er konnte sich an keinen Fall in der Geschichte, die ihm in seinen ersten Stunden als höllischer Dienstleister gelehrt worden war, erinnern, bei dem eine derartige Machtverschiebung vorgelegen hatte. Das lag in erster Linie daran, dass Nigreg seit Anbeginn der Zeit und Existenz der Lebendigen und Nicht-Lebendigen Welt der erste und einzige Goä gewesen war. Es gab nie eine freie Macht, die man hätte irgendwohin verschieben können.

Als der Siegeszug das Tor des Wolkenschlosses erreichte, verstummten die letzten Gespräche zwischen den Soldaten – die einzige Berufsgruppe, der es anhand der sie umgebenden Wolkenpracht nicht schon vorher die Sprache verschlagen hatte - und eine stumpfe, geradezu bedrängende Stille legte sich wie ein bleierner Vorhang über den Siegeszug. Man hielt an. Fabius erblickte Miryar, der schweren Schrittes, wissend, dass alle Blicke auf ihm ruhten, nach vorne ging und sich zwischen einigen Ohs und Ahs seiner Leute in die Lüfte schwang, wo er verharrte, und seine Untertanen mit strengem Blick musterte. Als sein Blick kurz an Fabius hängen blieb, war dieser sich sicher, den zukünftigen Kaiser schmunzeln gesehen zu haben. „Krieger!", durchschoss Miryars majestätisches Grollen die Stille, und Fabius spürte ein seltsames, fremdes Gefühl in sich aufsteigen. „Sieger!" Miryar breitete in einer großen Geste die Arme aus, als sei er selbst und niemand sonst der Schöpfer seiner Zuhörer – eine begrenzte Wahrheit. Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein stolzes Lächeln ab, das Fabius zutiefst ergriff. Sataä Miryar, dachte er, und die Worte verschwammen in seinem Kopf, Engelstreiber und Kaiser der höllisch-eisigen Dimension. Mein Kaiser. „Der Sieg ist unser!" Es erhob sich zögerlich zustimmendes Geheul aus dem Siegeszug. „Endlich, nach dem grausamsten Krieg, der unsere Dimension jemals heimgesucht hat, stehen wir als Sieger vor den Toren des Wolkenschlosses!" Bei seinem letzten Wort begann die Masse vor ihm unweigerlich durcheinander zu wiehern und einige Soldaten, die anscheinend nicht wussten, was genau eigentlich eine ehrenvolle Siegesrede war, fingen an, versaute Marschlieder zu singen. Überall um Fabius herum erhoben sich Sprechchöre, bei denen er begeistert mitgrölte, obwohl er die Texte kaum verstand. Plötzlich fühlte sich das Schloss für Fabius nicht mehr ganz so fremd an, sondern besaß auf eine verdrehte, unbeschreibliche Weise den Anschein eines zukünftigen Zuhauses, so wie ein Ferienhaus am Strand, zu dem man gelegentlich zurückkehren konnte. Fabius brannten die Augen vor patriotischer Liebe und er legte in tiefer Demut die rechte Hand auf seine Brust. „Ja, ganz recht, Brüder! Dieses Gemetzel, die Toten," Einige, die den Wortwitz anscheinend verstanden, lachten hell auf. „Und alles, was wir verloren haben" Fabius wusste genau, worauf Miryar anspielte. Es waren nicht nur Untote gewesen, die die himmlischen Gefilde gefordert hatten. Viel mehr waren wichtige, zentrale Gebiete der Hölle eingefroren worden, die nun wieder von der heißen Lava der Hölle überflutet werden würde, vermutlich bei einer feierlichen Zeremonie mit einer Menge Wein. „Gehört der Vergangenheit an! Jetzt, da wir hier stehen, vor diesen jämmerlichen Schlossmauern eines Zuckerwattehäuschens, werden wir sehen, was von dieser infamen, blutrünstigen, unrechten Kriegserklärung noch übrig ist! Dies ist nun unser Schloss. Wir treten ein!" In einem Sturm der Liebe für seine Nationalität drängte sich der Siegeszug durch die Tore des Wolkenschlosses. Die zuvor dagewesene Reihenaufteilung löste sich in Windeseile auf, und Fabius hatte Angst, nicht mehr mit den anderen Schritt halten zu können, weswegen er schließlich zu schweben begann, obwohl er wusste, dass ihm dieser Luxus eigentlich nicht zustand. Doch er wollte unbedingt wissen, was nun geschehen würde. Würde Miryar etwa sofort Konsequenzen ziehen? Würde es einen letzten, blutigen Kampf mit irgendwelchen Schlosswachen geben, bevor sie endgültig Einzug halten konnten? Seine Fragen beantworteten sich sofort von selbst, als Fabius sah, wie Miryar mit einem Wink sämtliche Tore auf ihrem Weg öffnete, und dann selbst hinter einer der kleineren Türen an der Außenfassade verschwand. Kurz befürchtete Fabius, ihr eigener Kaiser hätte sie vor einer himmlischen Streitkraft im Stich gelassen, doch kein einziger feindlicher Soldat begegnete ihnen auf ihrem Weg, einer einzigen, geraden, gläsernen Straße, der Fabius zögerlich folgte. „Fabius?" Schon wieder rutschte Fabius das Herz in die Hose, als er seinen Namen vernahm. Du meine Güte, warum war er heute nur so schreckhaft? Es musste an dieser seltsamen Stille liegen, schlussfolgerte er, sie vernebelte seinen Verstand. Es stimmte. Die patriotische Aufbruchsstimmung, die sich bei der Ankunft des Siegeszuges unter den höllischen Bewohnern ausgebreitete hatte, war komplett verschwunden, und von einer namenlosen Stille abgelöst worden, wie sie die Truppen kurz vor Miryars Ansprache befallen hatte. Während Fabius versuchte, die mit Ornamenten verzierten Wände des Schlosses größtenteils zu ignorieren, und direkt dem Thronsaal entgegenzusteuern, wo er schleunigst aufkreuzen musste, um die Anweisungen für die Krönungszeremonie zu erhalten, und den er schon von Weitem zu sehen glaubte, sah er, wie einige seiner Art begonnen hatten, die Wände zu inspizieren. Manche schienen sie regelrecht zu hypnotisieren, blieben einfach stehen, und sahen nicht so aus, als hätten sie vor, sich jemals wieder in Bewegung zu setzen. „Hey, ich rede mit dir!", rief die hohe Stimme eines Kindes entrüstet. Stimmt ja, jemand hatte ihn bei seinem Namen gerufen! Doch als Fabius sich umdrehte, um dieser Person einen ähnlichen Schrecken einzujagen, wie sie ihm, war niemand hinter ihm. „Hier unten, du Leuchtturm!" Gehorsam sah Fabius auf den gläsernen Boden hinab, und staunte nicht schlecht, als er ein kleines Mädchen erblickte, das das Kindergartenalter nur knapp überschritten haben konnte, was seltsam war, da es eindeutig eine Bewohnerin der eisig-himmlischen Gefilden war. In seinen Händen hielt sie eine kleine Sanduhr, in der sich weißes Pulver befand, das, wie es sich nun einmal für eine Sanduhr gehörte, langsam auf den Boden der Uhr rieselte. Doch es häufte es sich nicht am Boden an, die Sanduhr behielt ihre momentane Pulververteilung bei. Mit großen Augen fixierte Fabius das Schauspiel, und fragte sich, was genau dieses weiße Pulver wohl sein mochte, so dass er dem Kind, das ihn nun zum wiederholten Male ansprach, gar nicht richtig zuhörte. „Hey, ich rede mit dir! Starr nicht so dumm in der Gegend herum!" Das Kind plusterte seine Wangen auf und zog Fabius an seinem Umhang. Fabius erschrak, dann überwog der Ärger über dieses Verhalten. Hatte dieses Kind eigentlich noch nie etwas davon gehört, dass Leute, die dein Land annektiert hatten, tendenziell nicht deine Freunde waren? Fabius sank auf die Knie, um auf einer Höhe mit dem großen Paar blaugrauer Augen zu sein, das ihn neugierig ansah. „Was ist denn los, um Gottes Willen? Hast du keine Eltern, oder was?", flüsterte er leise, und fragte sich gleichzeitig, wieso er das tat. Es gab doch nichts zu verstecken, oder? Das war doch nur ein kleines Kind. Vielleicht suchte es seine Mutter. „Was machst du überhaupt alleine hier? Das Wolkenschloss ist Terrain der Hölle. Wenn man dich hier findet, könntest du wirklich in Schwierigkeiten geraten." „Hör mal, du musst mir helfen.", antwortete das Mädchen, als sei es selbstverständlich, dass ein erwachsener Mann ihm zuhören und helfen würde. „Ich bin Emyrion.", fügte es hinzu und zwinkerte verschwörerisch. Langsam wurde Fabius mulmig zumute. Außerdem hatte er keine Zeit für irgendwelche Mätzchen, schon gar nicht dafür, den Kinderbespaßer zu spielen. Dazu kam, dass dieses Kind nicht unbedingt dein Eindruck eines verzweifelten Kriegsopfers erweckte, was Fabius nur noch mulmiger zumute werden ließ. „Ich muss jetzt los, tut mir leid. Viel Glück noch." Er erhob sich, glättete mit den Händen seinen Rock, damit er bei der Krönung keine Falten zu bedauern hatte, und wandte sich eilig zum Gehen. Sie sah ihn an, als hätte er sie gerade mit einer geladenen Waffe bedroht und dann entschieden, doch lieber in Richtung ihrer Mutter zu zielen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und es dauerte nur wenige Sekunden, als sie ihr die Wange hinab rollten. Große, runde, bedauernde Tränen.  

Die Gesetzgeber - Leise rieselt der Schnee *Arbeitstitel*Where stories live. Discover now