21 ~ Rätsel über Rätsel (1)

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Bevor ich mich an meine Untersuchung wagte, vergewisserte ich mich kurz, ob auch wirklich niemand in der Nähe war. Da alles ruhig schien, atmete ich ein letztes Mal tief ein und fuhr dann entlang der gräulichen Linie an meinem Finger, bis diese leicht erglomm. Wie sonst auch steigerte sich dieses Glimmen zu einem Leuchten, das schließlich zu einem grellen Lichtblitz wurde. Gefolgt von einem hochfrequenten Ton erhellte dieser erhellte mein Zimmer für einen kurzen Moment.
Es war ein Ton, bei dem ich mir förmlich vorstellen konnte, wie Metall zum Leben erweckt wurde. Die Verwandlung vom Strich zum Ring war jetzt vollzogen. Es fehlte nur noch die vom Ring zum Dolch.

Meine Augen, die ich in weiser Voraussicht vorhin schon geschlossen hatte, hielt ich vorerst mal geschlossen, da ich wusste dass mich auch hierbei ähnlich grelles Licht erwartete.

Mit einem genauen Bild des Dolches vor meinen Augen, fokussierte ich meine ganze Energie darauf, aus dem harmlos aussehende Ring eine messerscharfe Waffe zu machen - genau wie mein Traum-Ich es mir letzte Nacht nach dem mehrstündigen Training eingeschärft hatte. Zugegeben - es war nicht die erholsamste Nacht meines Lebens gewesen, aber deshalb eine sehr produktive, falls man das Erlernen von Nahkampftechniken während dem Schlafen als produktiv nennen konnte.
Immerhin war das Messer mir jetzt nicht mehr so fremd und ich hatte wenigstens teilweise gelernt, wie man damit umgehen konnte. Dass wir in einem Traum gewesen sind, wo alles möglich war und wo wir uns nicht verletzen konnten, war nur ein angenehmer Nebeneffekt gewesen.
Ob dieses nächtliche Training allerdings etwas genützt hatte und ich jetzt auch im wirklichen Leben mit dem Dolch umgehen konnte, würde sich noch früh genug herausstellen. Wer weiß, vielleicht hatte ich auch nur wertvolle Schlafenszeit verloren, die ich nie wieder nachholen konnte.

Ich stellte mir also den Dolch ganz genau vor.
Den geschmeidigen Griff, der schwerer war als der Rest des Dolches, sodass er angenehm in der Hand lag.
Die dünne Klinge, die so sauber war, dass ich mich darin spiegeln konnte.
Das Gefühl, das ich spürte, wenn die Waffe ohne Wiederstand durch etwas hindurchglitt.
Die silbrige Metall, das in der Sonne glitzerte.
Die kleinen, blauen Steinchen, die überall in den Griff eingelassen waren und für besseren Halt sorgten.
All das führte dazu, dass der Ring in meiner Hand leise anfing, zu vibrieren, und diese Bewegungen immer stärker wurden, bis ich den Ring nicht mehr halten konnte. Noch während der Ring auf den Boden fiel, blitzte er erneut auf, und schlug schließlich mit einem dumpfen Knall auf dem Holzboden auf.

Erschrocken hielt ich den Atem an und horchte, ob irgendjemand den Aufprall gehört hatte. Doch alles blieb still. Ich stieß die angehaltene Luft erleichtert aus und schloss meine Hand nach kurzem Zögern um das glänzende Objekt.

Sobald meine Fingerkuppen den verzierten Dolch berührten, begann er Wärme auszustrahlen. Pulsierendes Leben durchströmte die Metallwaffe. Er begann ein blassblaues Licht abzusondern, das niemand außer mir sehen konnte. Wie eine Aura, die nur ich wahrnehmen konnte.

"Wow", murmelte ich.
Mein Blick war starr auf das vor Leben summende Objekt gerichtet. Fast ehrfürchtig hob ich es hoch und wollte es niederlegen, doch es ging nicht. Der Dolch war wie ein Teil von mir, wie ein Organ ohne das der Körper nicht überleben konnte. Wir waren eins. Cirithia und ich - verbunden durch Magie.

Jene Magie, die die blauen Edelsteinchen - Saphire - , die in den Griff eingelassen waren, plötzlich hell aufleuchten ließ. Ein Strudel aus kaltem, klaren Licht brach hervor riss mich in die Tiefen meiner Erinnerungen.

Ein Schaudern lief über mich, als sah, wo ich mich befand. Kälte. Der geflieste Boden, die grauen Wände, die grellen weißen Lichter, alles war kalt. Ein leichter Hauch von Desinfektionsmittel lag in der Luft. Soweit ich erkennen konnte war der Raum komplett steril. Das einzige freundliche hier war die orange-gelbe Bettwäsche, mit der die drei Betten bezogen worden waren. Zwei normalgroße und ein weiteres, kleines, was mich von der Größe her an mein eigenes Babybett erinnerte. An dessen eisernen Gestell waren Schmetterling in allen Formen und Farben, sowie ein Namensschild angebracht. Was draufstand, konnte ich nicht entziffern.
Mann, was hatte diese Person eine Sauklaue!

Das rechte Bett war zerwühlt, jedoch lag keine Person drinnen.
Als ich jedoch sah, wer sich im linken Bett befand, machte mein Herz einen kleinen Hüpfer, denn diese Person war gegen meine Erwartung keine Fremde. Nein, ganz im Gegenteil! Ich kannte sie nur zu gut. Es war eine junge Frau, schätzungsweise Ende zwanzig oder Anfang dreißig.
Diese Frau war meine Mutter - nur eben jünger als sie es jetzt war. Ihr volles, langes Haar hing ihr in die Stirn da sie den Kopf nach unten gesenkt hielt.

"Hallo, du Süße da!"
Ihre Stimme klang erschöpft, aber gleichzeitig auch erleichtert und so liebevoll, dass mir alleine schon vom sanften Klang beinahe das Herz schmolz. Dann erkannte ich, mit wem sie da redete.
Erstaunt weiteten sich meine Augen. Aus meinem Mund drang ein erstauntes "Oh."

In den Armen meiner Mutter lag eine Art vermummtes Päckchen, das eine Hand zum Daumenlutschen beansprucht hatte und mit der anderen fröhlich nach ihrer Nase grapschte. Dabei quietschte sie überglücklich.
"Sie ist wunderschön!", meinte meine Mutter zu der Hebamme, die neben ihr stand und mein Vergangenheits-Ich mit einem nachdenklichen Blick bedachte. "Meine kleine Verena."
In dem Blick, den meine Mutter ihrem Baby jetzt zuwarf, konnte ich alle die Zuneigung sehen, all die Liebe erkennen, die sie mir noch bis heute schenkte.
"Meine perfekte Tochter."
Ein warmes Gefühl nahm mich ein und ließ Glücksgefühle in  mir hochsteigen, die ich schon lange Zeit nicht mehr gespürt hatte. Sofort schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen.

Tränen traten ihr in die Augen, doch sie war zu verzückt von der kleinen rosigen Gestalt mit Speckfältchen und schneeweißen Haaren um sie zu bemerkten, sodass feuchte Tränen auf meine weichen Wangen klatschten.

Das Baby-Ich brabbelte daraufhin irgendeinen zusammenhanglosen Kauderwelsch, der niemand der hier Anwesenden verstand und lachte. Eisblaue Augen mit langen, dichten Wimpern trafen auf grüne.
Schon als kleines Kind war mein Blick so intensiv, dass nicht mal meine Mutter ihm standhalten konnte, sondern mich ganz fest an sich drückte und noch mehr Freudentränen vergoss.

Wäre dies keine Vision, beziehungsweise Erinnerung gewesen, hätte ich sie am liebsten fest in die Arme genommen, geknuddelt und nie wieder losgelassen. Es war einfach nur herzerwärmend, wie sie mit ihrem neugeborenen Kind knuddelte und vor Glück heulte.

Plötzlich sah meine Mutter nicht länger als die Person, die mich mit Zimmeraufräumen quälte und mich zum Lernen zwang, sondern als die Person, die mich zur Welt gebracht hatte, und mich seit diesem Moment mit ganzem Herzen liebte. Als die Person, die viele Schmerzen hatte, nur um mir ein Leben zu schenken.
Verdammt, beinahe kamen mir jetzt schon die Tränen. Das Ganze war einfach zu viel für die Gefühle eines Mädchens.

Die Hebamme stand solange kommentarlos daneben, und drückte nur ab und zu die Schulter meiner Mutter, bis diese sich wieder beruhigt hatte.
"Machen wir's wie besprochen?", fragte die blondierte Frau ruhig.
"Ja. Mein Mann und ich haben alles genauestens besprochen." Ihre Stimme bebte hörbar, als sie mich der Hebamme übergab und nach ihrer Tasche angelte.
"Hier. Bringen wir's hinter uns"

Mit diesen Worten zog meine Mutter einen Dolch aus ihrer Tasche und händigte ihn der Hebamme aus während sie selbst wieder ihr Kind in die Arme schloss.

Mein Herz begann wild zu klopfen, als ich die kleinen Steinchen, die in das edle Metall eingelassen waren, aufblitzen sah.
Es war der Dolch. Es war wirklich der Dolch. Mein Dolch.
Kurz überkam mich das Verlangen, die wunderschöne Waffe zu berühren, doch dann erregte was anderes meine Aufmerksamkeit. Tiefrote, samtige Lichtblitze. Sie kamen aus der Tasche.

Meine Atmung wurde schneller. Was war das? Die Lichtblitze schienen, genau wie bei Cirithia, von kleinen Edelsteinen - hier wahrscheinlich Rubinen - zu kommen. Aber das war nicht möglich - oder? Mein Dolch war doch ein Einzelstück, ein Unikat!

Synaax - Schneeweiße Vergeltung / PhantasieWettbewerb2017 // #iceSplinters19 Where stories live. Discover now