Kapitel 26.2

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Ich ließ meinen Tränen so lange freien Lauf, bis ich auf einmal stechende Blicke zwischen meinen Schulterblättern bemerkte. Da ich jedoch keinerlei Lust hatte, mit jemanden über das Geschehene zu reden, vergrub ich mein Gesicht nur noch tiefer in dem Haufen aus Decken und Kissen, in der Hoffnung, einen Eindruck zu machen, der erbärmlich genug sei.

"Geh weg", stieß ich wenig kreativ zwischen zwei Schluchzern hervor, die ich wieder mit der, inzwischen feuchten, Decke ersticken musste. Doch nichts tat sich. Die Augen der Person, die hinter mir stand und mich scheinbar keine Sekunde lang aus den Augen ließ, brannten tiefe Löcher in meinen Rücken.
"Lass mich alleine", schluchzte ich, "Geh."
Meine Stimme war kaum mehr ein Flüstern, doch die Person bewegte sich nicht.

"Nein." Die Antwort war zwar bloß geflüstert, doch ich hörte sie so klar, als hätte sie mir ins Ohr geschrieen. Und obwohl die Person sich sichtlich alle Mühe gab, ihr Unbehagen hinter einer taffen Fassade zu verstehen, konnte ich ein kleines Zittern aus ihrer hellen, sanften Stimme heraushören, das von Unsicherheit zeugte.

Das blauhaarige Mädchen wandte ihren Kopf ab, und das unangenehme Brennen ließ nach. "Das werde ich nicht." Sanfter Orangenblütenduft wehte zu mir hinüber, als ich mir mit meinen geröteten Händen über meine geschwollene Haut fuhr, um die vergossenen Tränen abzuwischen. Ich lachte rau auf, als ich ihre Unsicherheit klarer als vorhin wahrnahm.

"Ich bitte dich, Hannah", wisperte ich matt und richtete mich zaghaft auf, "Tu dir keinen Zwang an. Ich sehe doch, dass du das nicht ernst meinst und hinter dieser starken Mauer Fluten aus Angst sind, die nur darauf warten, dich zu verschlingen. Du fürchtest dich vor mir."
Letzteres war keine Frage, sondern eine Feststellung der bitteren Wahrheit, die sie versuchte, zu verleugnen.

"Das tue ich nicht." Ihr Flüstern war kraftlos, und ihr Blick hielt meinen, indem noch ein kleines Fünkchen Hoffnung aufglomm, nicht stand. Ein leichtes Zittern ging über sie, dann drehte sie sich komplett weg und richtete ihren Blick aus dem Fenster auf die dichten Bäume, die die Schule umgaben.
Ohne mich direkt anzusehen, sammelte sie Kraft, bevor sie ihre Worte mit mehr Ausdruck wiederholte.
"Das. Tue. Ich. Nicht." Zumindest versuchte sie es. Doch es gelang ihr kaum noch, ihre Angst zu verbergen. Am Ande des Satzes brachte sie kaum mehr ein Flüstern über die Lippen.
"Vera", wisperte sie, "Bitte verzeih mir. Es tut mir so leid."

Eine Weile blieb es ruhig. Dann zwang ich mir ein kleines, unechtes Lächeln auf, das sie jedoch nicht sah, da sie mir immer noch den Rücken zudrehte. "Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast alles Recht dazu, Angst zu haben und dich in meiner Nähr unwohl zu fühlen. Ich bin hier das Monster. Je weiter weg du von mir bist, desto besser. Ich habe keine Kontrolle darüber. Und - ich will niemanden verletzen - erst recht nicht dich. Also bitte geh, solange du noch kannst,"
Ich sah anhand der Spiegelungen im Glas, dass sie die Augen groß aufriss, doch bevor sie auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte, fuhr ich weiter.
"Es ist besser, wenn du jetzt für Yasmin da bist ... nach allem was ich ihr angetan hab. Sie braucht eine gute Freundin, wie dich, jetzt mehr denn je."

Ich atmete zitternd auf, holte tief Luft, während ich versuchte, die Tränen zurückzuhalten, damit sie mich nicht als verweintes Häufchen Elend in Erinnerung behielt, was sie wahrscheinlich sowieso schon tun würde.
Große, himmelblauen Augen blickten ein letztes Mal leer in meine. Dann ging das zierliche Mädchen langsam in Richtung Tür, durch die sie, lautlos wie ein Geist, verschwand.

Die Tür fiel mit einem leisen Klacken ins Schloss. Der verkümmerte Rest des Bandes unserer Freundschaft, das bereits beschädigt gewesen war, riss mit einem Mal. Die letzten Fasern schnappten auseinander und hinterließen nur die beiden vertrockneten Enden des Bandes unseres Vertrauens. Dazwischen blieb nichts außer Trauer und Schmerzen.

Ich hatte mein Ziel erreicht - fühlte ich mich besser? Keineswegs. Aber der Gedanke, dass ich vielleicht ihr Leben gerettet hatte, ließ mich mit einem irren Psycholächeln auf dem weichen Teppich niedersinken. Meine Finger fuhren durch die einzelnen, fellartigen Fasern, während ich in schönen Erinnerungen schwelgte. Als ich an den inneren Frieden zurückdachte, den ich schon solange nicht mehr gespürt hatte, seufzte ich tief und schloss meine Augen. Jetzt war er nicht mehr da und die Schuldgefühle waren stärker den je.
Ich hatte meine Freundinnen nicht nur in Gefahr gebracht, sondern sie auch noch von mir weggestoßen.

Ich vermisste sie. Beide. Obwohl ich sie noch gar nicht so lange kannte, waren sie mir bereits sehr ans Herz gewachsen. und nun - nun würde ich sie für immer verlieren, genau so wie damals Lily verloren hatte, die einmal meine beste Freundin gewesen war. Wir beide waren seit frühester Kindheit unzertrennlich gewesen und hingen stets zusammen. Mehrere glücklich Jahre vergingen, doch eines Tages war sie nicht mehr in der Schule aufgetaucht. Tage, Wochen, Monate, Jahre vergingen, doch es war, als hätte sie niemals existiert. Seit sie spurlos und ohne auch nur ein Wort des Abschiedes verschwunden war, war ich nicht mehr derselbe, sorgenlose Mensch. Und obwohl meine Mutter mir damals gesagt hatte, sie wäre ganz weit weggezogen, glaubte ich der Richtigkeit ihrer Worte nie. Ob sie nur versucht hatte, mich zu beruhigen, oder ob es doch die Wahrheit war, wusste ich immer noch nicht und würde es wahrscheinlich auch niemals erfahren.

Ich schniefte und wischte mir erneut über die Augen. Meine Unterlippe zitterte, als ich laut aufschluchzte und mich tiefer in mein Kissen drückte. Mit den Erinnerungen kam auch die Trauer erneut in mir hoch. Ich hatte wirklich Pech bei meinen Freunden - aber zumindest hatte ich noch Louis ... oder? Würde er mich, genau wie die anderen Schüler, meiden? Oder würde er immer noch zu mir halten? Gewiss, hatte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, aber das Geschehen hatte so schnell die Runde gemacht, dass er bestimmt eine dieser verrückten Varianten gehört hatte, in denen man mich als noch größeres Monster darstehen gelassen hatte, als ich es bereits war.

Mit giftigen Zähnen, die einen halben Meter lang waren und mit denen ich meine Gegner innerhalb von wenigen Sekunden aussaugen konnte. Oder Schlabberohren, mit denen ich einen Kleinwagen samt Insassen. mit bloßer Kraft zerquetschen konnte.

Ein rauen Lachen entrang meiner geschundenen Kehlen. Dann überschütteten mich die nächsten Schluchzer und ich brach wieder zusammen. Mein Gesicht glühlte und meine heißen Tränen brannte Spuren in meine warme Haut. So lustig diese Vorstellungen auch waren, sie waren nicht zum Lachen, denn sie beschrieben nur das, das die anderen Schüler in mir sahen: Das Monster, das einen mit Haut und Haaren verschlang - gleich nachdem es dein Herz als Vorspeise verdrückt hatte.

Synaax - Schneeweiße Vergeltung / PhantasieWettbewerb2017 // #iceSplinters19 Where stories live. Discover now