Verlassen

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Eine ganze Stunde war das nun her. Beide saßen stumm an Esstisch. Hin und wieder blickte einer der beiden zum anderen, doch sobald der eine Blick hob, senkte der andere ihn wieder. Und so ging es fast eine halbe Stunde, bis Anni mit ihrem Teller in die Küche verschwand.

Seufzend lies Jake den Kopf hängen. Das sowas immer ihm passieren musste!
" Ähm, willst du vielleicht noch Nachtisch?" fragte Anni leise. Sie hatte in der Küche kurz ihren Teller abgespült und war dann wieder ins Esszimmer gegangen.
" Nein, danke." antwortete Jake träge, nahm seinen Teller und ging an Anni vorbei in die Küche.

Anni sah ihm traurig hinterher und auch sie seufzte. Wäre das doch alles nicht passiert!
Schweigend räumte sie den Tisch auf und begab sich dann in ihr Zimmer.
Tief einatmend trat sie auf ihren kleinen Balkon, der das Zimmer zu einem des schönsten machte. Sie brauchte unbedingt frische Luft.

Nachdem Jake von ihr abgelassen hatte und sie- wieder wurde sie rot, als sie daran dachte- ihn noch gereizt hatte, war sie hier her geflüchtet und hatte sich auf den Balkon verschanzt. Die Erkenntnis, was sie beide fast getan hatten, traf sie dann wie der Schlag. Schon zum zweiten mal an diesem Tag! Es wurde langsam Zeit, dass ihre Eltern wieder nach Hause kamen.

Anni spürte, wie ihre Augen langsam feucht wurden und sich ein dicker Klos sich in ihrem hals bildete.

Verdammt! Musste sie jetzt unbedingt heulen!
Energisch fuhr sie sich über die Augen und sah raus zum Nachthimmel. Für die Jahreszeit war es schon ziemlich früh dunkel geworden.
Einzelne Sterne glitzerten am Himmel und der Halbmond schimmerte hinter einer flauschigen Wolke, die einen Kranz aus silbrigen Licht hatte.

" Wunderschön!" hauchte Anni und ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie trat einen Schritt nach vorne und stützte sich am Geländer ab.

Eine Weile sah sie den Sternen beim Leuchten zu, doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit von einer Stimme abgelenkt, die die Straße hinunter schrie. Anni kannte diese Stimme, und als Später ihre beste Freundin Mimi um die Ecke kam, wusste sie auch, wieso sie so schrie.

Sie lief hinter einem Jungen her, um genau zu sein hinter Marcus McGennie, der sie zu ignorieren schien.
" Das kannst du nicht tun!" rief sie sauer und legte an Tempo zu. "Wieso? Ich will einfach nur wissen, wieso? Hast du ne andere?! Eine, die älter ist?" fragte sie und packte ihn schließlich am Arm. " Antworte mir!"
" Mensch, jetzt mach mal nicht so ein Theater. Du weckst noch die ganze Gegend auf, mit deinem Geschrei." meinte er und löste seinen Arm aus ihrem Griff. " Wenn du es unbedingt wissen willst! Schön, ich hab ne andere! Und sie ist tausendmal hübscher UND klüger als du! Außerdem wollte sie mit mir ins Bett, nicht wie andere." Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte überheblich zu Mimi runter.

Als Anni das hörte, wollte sie am liebsten runter und diesem McGennie eine reinhauen. Sie krallte sich am Geländer fest und sah weiterhin runter zu Mimi und ihren "Ex"-Freund. Sie waren jetzt nur noch ein Haus von ihrem entfernt.

" Also wolltest du mich nur fürs Bett?" fragte Mimi jetzt leiser, sodass Anni Probleme hatte, sie zu verstehen.
" Schätzchen," lachte McGennie, "jeder will dich nur fürs Bett! Was glaubst du, warum dich alle so schnell fallen lassen!"
Anni hörte danach nur noch einen "Klatsch" und sah gerade noch, die Marcus McGennie wütend davon rauschte.

Schnell löste Anni ihre Hände vom Geländer und rannte durch ihr Zimmer, die Treppe runter zur Tür und riss sie auf. Aus dem Wohnzimmer vernahm sie noch Jakes erschrockenes "Anni!", doch sie hörte nicht auf ihn sondern rannte durch den kleinen Vorgarten auf den Gehweg.
Als sie Mimi saß, blieb sie abrupt stehen.
" Mimi!?" rief sie dann doch und angesprochene hob ihren Blick vom Boden. Anni schaute sie besorgt und gleichzeitig entschuldigend an und ging auf sie zu.

Als sie näher kam, sah sie, dass Mimis Gesicht tränennass war und sie immer wieder bebte.
" Mimi." vorsichtig nahm Anni sie in den Arm und tröstete sie, als sie anfing zu schluchzen.
" Warum?" fragte Mimi zitternd. " Wieso bekomme ich immer die Jungs ab, die totale Arschlöcher sind?"
" Ach, Mimi, das frage ich mich manchmal auch."

" Anni, was ist denn los? Mimi? Was machst du denn hier?" Jake kam hinter Anni aus der Haustür gerannt und blieb bei den beiden Mädchen stehen.
" Jake? Was machst DU hier?" fragte Mimi überrascht und löste sich von Anni.
" Oh, ähm, weist du, meine Eltern sind weg gefahren und da habe ich Jake gefragt, ob er nicht lust hat, zu mir zu kommen." grinste Anni falsch und stellte sich gezwungen neben ihren Bruder.
" Oh." machte Mimi verstehend. " Ich sollte wohl mal wieder gehen. Muss noch Hausaufgaben machen. Man sieht sich in der Schule und Anni," angesprochene sah überrascht auf, "danke, dass du gerade da warst. Ich wüsste nicht, was ich sonst gemacht hätte." Sie umarmte Anni noch einmal, nickte Jake freundlich zu und ging dann die Straße wieder zurück.

" Was wollte sie denn hier? Und warum hat sie geweint?" Jake sah Anni fragend hinterher, als sie seufzend das Haus wieder betrat. Schnell lief Jake ihr hinter her.
" Jungs sind Arschlöcher, deshalb hat sie geweint." sagte Anni schnippisch und warf sich aufs Sofa, wobei die Schnell wieder aufsprang, da sie genau auf dem "Sofa" lag.
Mit roten Wangen setzte sie sich in den Sessel, in dem Jake bis vor kurzen gesessen hatte.
" Und warum?" fragte dieser jetzt und setzte sich auf den Wohnzimmertisch.
" Er, Marcus, wollte sie nur für Sex, aber sie hat nicht gleich mit ihm geschlafen, was ich sehr gut finde, und deshalb hat er mit ihr Schluss gemacht. Sie ist jetzt total fertig." Mit einem Seufzen endete Anni und sah dann zum Fernseher, in dem gerade eine Talk-Show lief.

" Oh ja, dieser Typ ist echt ein Arschloch." stimmte Jake Anni zu. " Naja, was willst du da machen. Alle Jungs verprügeln, die Mimi schlecht behandelt haben?" lachte er und fuhr sich danach durch die Haare.
" Nein, das wäre zu einfach. Aber egal, Mimi muss einfach aufpassen. Irgendwann findet sie einen, bei dem sie keine Angst hat, dass es Falsch ist, mit ihm zu schlafen. Irgendwann findet sie einen, bei dem sie sich wohl fühlt und ihn wirklich nie missen will. Irgendwann," Anni lächelte selig, "sie einen finden, den sie einfach liebt. Alles an ihm liebt und ihn In- und Auswendig kennt und der sie genau so sehr liebt. Der sie respektiert. Ich wünschte, ich könnte für sie einen finden, dann wäre sie endlich glücklich."

Jake sah seine Schwester fassungslos und überrascht, aber auch bewundernd an. Solche Worte aus ihrem Mund!
Wow, dachte Jake nur. Sie hat alles genau auf den Punkt getroffen, hieß das dann, dass er Anni liebte? Nicht wie eine Schwester, sondern wie...ja, wie liebte er Anni eigentlich?

" Weist du, solche Typen gibt es nicht wie Sand am Meer. Wenn man sucht, findet man ihn nie." sagte Jake leise. 
" Ich weiß, und genau da liegt ihr Problem. Sie sucht."
" Hast du ihn denn schon gefunden?" Überrascht sah Anni zu Jake. Auf diese Frage war sie jetzt nicht vorbereitet gewesen.
Ihr Herz beschleunigte sich und ihre Hände wurden schwitzig.
" Hast du sie denn schon gefunden?" fragte sie ihn.
" Ich habe zu erst gefragt."
" Ich geh ins Bett. Mom und Dad kommen doch Morgenfrüh, oder?" Jake nickte.
Seufzend verließ Anni das Wohnzimmer. Diese eine Antwort, blieb sie ihm schuldig.

Geschwisterliebe Where stories live. Discover now