thirty-six

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Ich würde alles für ihn tun. Alles. Aber ich wusste nicht, ob ich es konnte. Ob der Pla mir gelingen würde. Ob ich ihn retten könnte.

„Kann ich nochmal mit Jake unter vier Augen reden?", bat ich James und Mum. Die beiden verließen den Raum. Sie hatten wahrscheinlich meine Unsicherheit bemerkt.

„Ich weiß nicht, ob ich das kann", gab ich auf meiner Lippe kauend zu. „I-ich... du kennst mich. Ich bin nicht überzeugend. Ich kann einfach nicht stur sein oder standhaft bleiben. Du weißt das. Was wenn ich es nicht schaffe? Was wenn ich es nur schlimmer mache?" Ich wollte ihm wirklich helfen, trotzdem könnte ich alles auch schlimmer machen. Ich hatte keine Ahnung davon.

„Du hast recht, Ich kenne dich. Deshalb weiß ich, dass du der stärkste Mensch bist, den ich kenne. Du hast deinen Vater 17 Jahre lang ausgehalten. Du hast dich nie gewehrt, hast nie etwas gesagt. In der Schule hat dich Mason nie in Ruhe gelassen, immer auf dir rumgetrampelt und du hast nichts getan. Du hast es still und leise ertragen. Obwohl du innerlich jeden Tag ein kleines Stückchen mehr zerbrochen bist, hat man deine Scherben nie gesehen. Du siehst das als Schwäche, das weiß ich, aber du bist so stark. Wegen all dem, was du durchgemacht hast, wegen all dem, was dich innerlich zerbrechen lässt. All diesen Schmerz hast du in etwas Schönes umgewandelt, anstatt in Wut und Zerstörung. Man füttert dich mit Leid und du produzierst Schönheit und Liebe.

Es gibt keinen Menschen der so viel Geld in den Taschen hat und trotzdem ein so reines Herz besitzt wie du. Die Menschen in deinem Umfeld haben dich nicht zerstört, das könnten sie nicht. Dafür bist du viel zu stark.

Deswegen liebe ich dich. Mit all deinen Narben und all deinen Unsicherheiten, aber ich liebe auch die Stärke in dir, die du nicht siehst. Doch ich sehe sie. Und ich will, dass du sie erkennst und sie nutzt. Ich glaube an dich, Erin. Ich weiß, dass du das schaffst. Wenn nicht du, dann niemand."

Mein Herz blieb stehen. Wie konnte er all das bloß in mir sehen? Stimmte es? Ich vertraute Jake, mehr als jedem anderen. Andrerseits... vertraute ich mir selbst? Konnte ich das schaffen? Für Jake auf jeden Fall.

Aber was war mit mir? Warum konnte ich mich nie selbst retten? Konnte ich es auch für mich selbst schaffen? Konnte ich es für uns beide schaffen?

Eine einsame Träne rann meine erhitzte Wange hinunter. Jake wollte sie wegstreichen, doch ich hielt seine Hand fest.

„Streich sie nicht weg. Sie sollte gesehen werden. Von jedem Menschen auf diesem verdammten Planeten." 

*

Ich sprach weder mit meiner Mom noch mit James, während wir zurückfuhren. Jakes Worte hatten sich in mein Hirn eingebrannt und spielten sich die ganze Zeit ab. Man füttert dich mit Schmerz und du produzierst Schönheit und Liebe...

War ich wirklich stark? Hatte ich wirklich ein reines Herz? Würde man wirklich auf meine Stimme hören?

Ich wollte es glauben. Jake hatte es gesagt, aber ich wollte es nicht deswegen glauben. Ich wollte es glauben, weil es stimmte.

„Mum?", fragte ich. Sie drehte sich zu mir. „Du hast mir doch mal erzählt, dass wir auf dem Dachboden eine Schreibmaschine haben. Könntest du mir die geben? Vater hat mir ja den Laptop weggenommen." Mum nickte sofort lächelnd. Auf James' Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

„Wir glauben an dich", sagte er. Diese vier Worte gaben mir so viel Hoffnung. Ich hatte immer noch Menschen, die mich liebten, denen ich wichtig war und die an mich glaubten. Es waren vielleicht nicht viele, aber es waren genug für mich.

Ich hatte immer gedacht zu hoffen würde mich endgültig zerstören. Hoffnung führte doch nur zu Enttäuschung, hatte ich mir selbst nachts zugeflüstert. Ich hatte mir selbst verboten davon zu träumen, von meiner Familie loszukommen und hatte es trotzdem getan. Vielleicht schmerzte Hoffnung, aber es war ein süßer Schmerz.

Wir verabschiedeten uns von James und liefen den Rest nachhause. Im Flur begrüßte uns Mr. Hunt mit einem eisernen Blick.

„Das war aber ein langer Spaziergang", kommentierte er und grinste süffisant. Mum reagierte mit keinem Gesichtsmuskel, sie schaute ihn nicht mal an. Man könnte denken, ihr würde nichts zum Kontern einfallen, doch durch ihre fehlende Reaktion zeigte sie ihm ihr Desinteresse.

Wir liefen die Treppen zum Dachboden hoch, bis wir vor einer Tür stehen blieben. Sie war abgeschlossen. Mum nahm ihre Kette ab und reichte sie mir.

„Der Dachboden war immer der einzige Ort, der ganz allein mir gehörte. Dein Vater hat keinen Zugang dazu. Also lass die Schreibmaschine dort und mach es zu einem Zufluchtsort, okay?" Ich nickte. Sie ging wieder runter und ließ mich alleine.

Ich schloss die Tür auf und betrat den kleinen Vorraum. Eine enge Treppe führte zum Dachboden. Es war nicht verstaubt und alle Lichter funktionierten noch. Mum musste hier immer geputzt haben.

Oben war es nicht sonderlich groß, doch es reichte mir. Die Schreibmaschine stand bereit auf einem Schreibtisch, Blätter lagen daneben.

Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte, also zeichnete ich. Ich brauchte Inspiration und Zeichnen half mir da.

Irgendwann, ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, legte ich den Stift nieder und betrachtete meine Zeichnung. Es war ein Mädchen. Sie trug ein aufwendiges Tüllkleid und an ihrem Fußgelenk war eine Violine befestigt, die sie hinab in die Tiefe eines endlosen Ortes zog. Sie ertrank... Sie ertrank in ihrem Leben.

Ich zog die Schreibmaschine zu mir heran und schrieb, obwohl ich das doch gar nicht konnte. Jake glaubte an mich. James glaubte an mich. Mum glaubte an mich. Und noch viel wichtiger: ich glaubte an mich selbst.

Meine Hände flogen über die Tasten, ich schrieb vieles neu, schmiss Blätter weg, doch mit der Zeichnung und meiner Hoffnung hatte ich schließlich den Anfang:

Mein ganzes Leben war ein einziger Plan, erstellt von meinen Eltern. Er bestimmte alles. Meine Freunde, meinen zukünftiger Ehemann, meine Zukunft. Ich hatte nicht einmal Mitspracherecht.

Sie drückten meinen Kopf unter Wasser und ich versuchte so wenig zu strampeln wie möglich, weil ich hoffte sie würden mich vielleicht irgendwann loslassen. Auftauchen lassen. Leben lassen.

Bisher hatte sich niemand darum gekümmert, mich rauszuziehen. Aber dann kam er. Er platzte einfach in mein ach so "perfektes" Leben und stellte alles auf den Kopf. Er veranstaltete so ein Chaos, dass ich nicht wusste, ob ich das jemals wieder aufräumen könnte.

Doch ehrlich gesagt, wollte ich es nicht beseitigen oder aufräumen. Er war das größte Abenteuer, das ich je erlebt hatte, das ich je erleben wollte. Er brachte mich dazu nicht nur meine Violine zu sehen, er erweiterte meinen Horizont, in dem er mir auch schreckliches zeigte. Und Schrecklich war ein gutes Wort. Denn das was wir hatten war schrecklich schön.

Natürlich war er schlechter Umgang für mich, zumindest nach meinen Eltern. Er war einer dieser Menschen auf die sie herabschauten, bloß weil sie nicht mit Geld und Ansehen gesegnet oder wohl eher verflucht wurden. Ich würde liebend gern das ganze Geld, das ich besitze an Menschen vergeben, die es nötig haben, anstatt zuzusehen, wie „meine" Leute über sie lachen.

Was mich aber am meisten an ihm faszinierte war die Art, wie er durchs Leben ging. Für ihn war jeder Tag eine neue Chance, jeder Tag ein neues Leben, jeder Tag ein neuer Moment für die Ewigkeit.

Ich wuchs in einer Welt auf in der alles auf die Zukunft ausgerichtet war. „Du darfst jetzt nicht spielen, du musst üben, du willst doch später berühmt werden, oder nicht?" In meiner Welt war alles so falsch. Es drehte sich alles um Geld und Ansehen. Als gäbe es im Leben nichts Wichtigeres als das. Wie Liebe, Freundschaft und Freude.

Er zeigte mir dies. Er zeigte mir wie man Spaß hat, wie man erlebt und auch wie man liebt. Das was zwischen uns war, würde ich niemals vergessen. Diese Erinnerung gehört mir und sie wird immer mir gehören. Man kann mir vieles nehmen, aber das nicht. Doch langsam wird es Zeit diese Erinnerung zu teilen. Er hat es so gewollt.

Das hier ist meine Geschichte. Unsere Geschichte.

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