Loyalität

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„Verfolgst du mich?", fauchte Katy, als sie nach etwa einem Kilometer entdeckte, dass Miguels Sohn Raoul hinter ihr lief.

„Ich soll dich nach Hause bringen", erwiderte er und ließ sich von ihrer Wut nicht einschüchtern.

„Verschwinde", fauchte sie, drehte sich um und funkelte ihn an.

„Nein", erwiderte er stoisch und ruhig.

Katy sah ihn sich zum ersten Mal genauer an. Es wunderte sie nicht, dass er sich nicht von ihr einschüchtern ließ. Er war mindestens so groß wie Theodor, an die zwei Meter und genau so breit wie sein Vater. Unter dem weißen Hemd wölbten sich die Muskeln und seine nackten Unterarme waren sehnig. Unter dem Stoff lugte an den Armen schwarze Tinte hervor und sie erahnte einige geschwungene Linien.

„Geh nach Hause Raoul, ich brauche niemanden der auf mich aufpasst", sagte sie seufzend, drehte sich wieder um und nahm den Weg nach Hause erneut auf. Doch Raoul folgte ihr weiter.

Sie sprachen nicht miteinander, er lief immer zwei Schritte hinter ihr und irgendwann blendete sie ihn aus und konzentrierte sich wieder auf ihre Wut.

Isabella wollte, dass sie ihr Tanzstudio aufgab. Nathan hatte es für sie eingerichtet, sorgfältig mit beinahe allem ausgestattet und sie liebte es. Seit sie zehn Jahre alt war, hatte sie die meiste Zeit in diesem Raum verbracht und jetzt wollte ihre Mutter, dass sie ihn aufgab. Aber es war doch ihr Ort der Ruhe, dort war sie sie selbst, konnte sich von der Schule erholen, die Trauer über den Tod ihres Vaters vergessen und nur sein. Sie tanzte dort, oder saß einfach nur da und starrte Löcher in die Luft.

Isabella wusste doch, wie viel ihr dieser Raum bedeutete, warum wollte sie, dass sie ihn aufgab? War sie etwa einsam gewesen die letzten fünf Jahre und wollte jetzt unbedingt wieder einen Mann in ihrem Leben? Aber sie hatte doch Katy, Conner und Theodor, warum sollte sie sich einsam fühlen.

Katy schüttelte den Kopf und bog von der Straße ab auf einen Waldweg, der zwar dunkel war, aber auch kürzer.

„Gehst du hier auch alleine durch?", fragte Raoul und wirkte mit einem Mal nervös.

„Ja, ein Problem damit?", grummelte sie, aber er ignoriert sie, sah sich immer wieder aufmerksam um und packte sie dann unvermittelt am Arm. Er stieß sie vor sich ins Gebüsch und bevor sie lautstark protestieren konnte hielt er ihr den Mund zu.

„Kein Wort", flüsterte er nah an ihrem Ohr. Er lag mit seiner gesamten Länge auf Katy, aber er stützte sein Gewicht so ab, dass sie nicht unter ihm zerquetscht wurde.

Im nächsten Moment jagten Motorcross Maschinen über den Waldweg. Jugendliche grölten laut und als eines der Bikes eine Fehlzündung hatte zuckte Katy unter ihm zusammen.

„Alles ist gut, einfach ruhig bleiben", murmelte Raoul und hielt sie weiter fest, nahm aber die Hand von ihrem Mund.

Wenige Sekunden später war die Gruppe verschwunden und Raoul half Katy wieder auf die Beine.

„Was zur Hölle war das?", fragte sie aufgebracht und klopfte sich den Staub vom Kleid. Raoul wirkte nervös, legte sich eine Hand in den Nacken und sah sie an.

„Ich bin gut befreundet mit einigen aus der MS-13."

Katy starrte ihn an und wollte schon laut fluchen, da hielt er sie zurück.

„Ich bin wirklich nur mit ihnen befreundet", beschwichtigte er sie. „Ich war nie drinnen, aber das hier ist das Gebiet der Mara 18 und für die meisten sieht es so aus, als wäre ich tatsächlich einer von ihnen. Hätte unschön werden können, wenn sie mich gesehen hätten."

Katy versuchte immer noch ihren Schock zu verarbeiten.

„Die Mara Salvatrucha!", rief sie aufgebracht und schlug ihm auf den Oberarm. Raoul sah sie verwundert an, ein Mädchen hatte ihn noch nie geschlagen.

„Eine der gefährlichsten Straßengangs in den USA? Was zur Hölle denkst du dir dabei?", fuhr sie ihn weiter an. Katy wusste nicht woher diese Wut kam, eigentlich war sie ein ausgeglichener Mensch, zumindest äußerlich.

„Was sollte ich tun? Das sind Jungs, die ich seit meiner Kindheit kenne, soll ich sie im Stich lassen, weil sie einen Fehler machen?", fragte er aufgebracht und fuhr sich durch die langen schwarzen Haare, die jetzt in alle Richtung abstanden.

Katy verstand ihn, auch sie hatte Freunde an Straßengangs oder die Kriminalität verloren und, wenn sie heute vor ihrer Haustür stehen würden, konnte sie sie vermutlich auch nicht abweisen.

„Das muss aufhören", sagte sie dennoch mit harter Stimme. „Conner ist noch nicht einmal dreizehn, wenn er da mit reingezogen wird."

Katy versagte die Stimme, sie wollte und konnte sich nicht vorstellen was sie dann tun würde.

„Die Jungs kenne die Grenze glaub mir, ich würde niemals einen von euch in meinen Mist reinziehen. Diego halte ich auch schon seit Jahren erfolgreich von der ganzen Scheiße fern."

Er sah sie an und so viel Aufrichtigkeit lag in seinen blauen Augen, dass sie ihm einfach glauben musste.

„Ich mach dich persönlich fertig, wenn er davon auch nur irgendwas mit bekommt", sagte sie dennoch und Raoul nickte.

Das Katy so für ihren Bruder einstand machte sie ihm etwas sympathischer nach ihrer kratzbürstigen und dramatischen Reaktion im Restaurant gerade. Er verstand nicht, warum sie sich wegen eines Zimmers so aufregte, vor allem, weil ihre Mutter es ihr ersetzten wollte.

Katy wirbelte auf ihren Fersen herum und marschierte weiter in Richtung von Raouls neuem Zuhause. Er folgte ihr in einigen Schritten Abstand und versuchte nicht auf ihren Hintern zu starren, der unter dem leichten Leinen Kleid lediglich zu erahnen war. Aber das machte es beinahe noch schlimmer, als wenn sie nackt vor ihm gestanden hätte.

Bei dem Gedanken an eine nackte Katy stolperte Raoul über seine eigenen Füße und Katy warf einen Blick über die Schulter zurück. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie genau wusste, woran er gerade gedacht hatte.

Ihre grünen Augenblitzen für einen Moment und Raoul sandte ein Stoßgebete Richtung Himmel.Dieses Mädchen bedeutete Ärger, dass wusste er jetzt schon.

Raoul & Katy - A never-ending storyDonde viven las historias. Descúbrelo ahora