Der Anfang vom Ende

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Edna stand am Fuß der Treppe und blickte auf die seltsam verdrehten Gliedmaßen von Dr. Marcel herab. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, während ihr die letzten Worte des Schlüsselmeisters durch den Kopf schossen...
"Ich gehöre nicht in die Freiheit"

"Enda, Edna, Edna! Jetzt mach doch endlich! Wir müssen hier schnellstens verschwinden!"
Das alte verwahrloste Haus wurde von einer bedrückenden Stille erfüllt.
"...was haben wir getan, Harvey? Was hab ICH getan?"
"Du hast uns gerettet, das hast du getan. Und jetzt komm endlich, dieser Ganove hat bestimmt schon die Polizei gerufen! Wir müssen ganz schnell hier weg, oder willst du nach all dem wieder in die Anstalt zurück?
Edna, dann wäre alles umsonst gewesen. Edna? Edna??"
Doch diese war unfähig zu reden, denn in diesem Moment zogen blinkende Lichter, welche durch das Fenster nach drinnen gelangten, ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ihr kleiner Freund hatte Recht! Die Polizei hatte sie gefunden, sie saßen in der Falle!
"Verdammt!", entfuhr es der Entlaufenen. "Verdammt, Harvey, sie haben uns! Was sollen wir nur tun?"
Plötzlich schien das Mädchen wieder zu sich gekommen zu sein. Panisch sah sie sich um, suchte nach einem Ausweg.
"Erstmal sollten wir uns verdrücken", schlug ihr plüschiger Begleiter vor. "Und das möglichst bald!"
Edna warf noch einen letzten Blick auf dem Mann, den sie ihr ganzes Leben lang als Feind betrachtet hatte und der nun vollkommen hilflos vor ihr lag. Es war schwer zu sagen, ob er noch am Leben war. Edna war sich nicht ganz sicher warum, aber sie wünschte es sich irgendwie. Doch im nächsten Moment wurde sie von einer fremden Stimme aus ihren Gedanken gerissen.
"Die Vordertür ist verbarrikadiert. Sie muss durch ein Fenster hinein gelangt sein!"
"Das Kellerfenster ist offen", rief ein anderer Polizist. Für Edna wurde es nun höchste Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Noch etwas unsicher bewegte sie sich in ihr Zimmer. "Hast du das vor, was ich denke, dass du vor hast?" Harveys Begeisterung war zurückgegekehrt. Seine Freundin nickte nur kurz und öffnete so lautlos wie möglich ihr Zimmerfenster.
"Gut festhalten, kleiner Kumpel..." Entschlossen klammerte sie sich mit einer Hand am Rahmen fest. Mit der anderen hielt sie Harvey.
Kurze Zeit später kauerten sie auf dem immer noch überraschend stabilen Dach und suchten Halt hinter dem Schornstein. Es war nun unmöglich für sie vom Garten
oder der Straße aus gesehen zu werden. Edna hatte sogar daran gedacht, beim Heraufklettern mit dem Fuß das Fenster wieder zu zu schubsen. Sie waren also in
Sicherheit....vorerst...
Nach einer Weile hörten sie Stimmen aus den Inneren des Hauses.
"Jemand muss einen Krankenwagen rufen, wir haben einen Schwerverletzten im ersten Obergeschoss! Durchsucht alle Räume!"
Es kam Edna vor, als wären die Polizisten stundenlang dabei die modernden Zimmer zu durchforsten. Als schließlich ihr Zimmer an der Reihe war, wagte sie kaum zu atmen. Würden sie bemerken, dass das Fenster erst vor kurzem geöffnet worden war?
"Sie muss in den Wald geflohen sein!", vernahm die Flüchtige einige Minuten später. Die Erleichterung, die sie empfand, hielt jedoch nicht lange an, denn kaum war die Anspannung vorüber, machte sich sie Verzweiflung breit...
Sie war also schuld an Alfreds Tod. Sie war schuld am Tod ihres Vaters. Und laut dem
Schlüsselmeister war sie auch schuld am Tod des armen Pastors... sowie auch am Tod des Schlüsselmeisters selbst.
Sie war zwar am Ziel ihrer Reise angekommen, aber was sie empfand, war keine Freude, keine Genugtuung.
Sie fühlte sich einfach nur leer und verloren. Allein auf der Welt und auf der Flucht vor dem Gesetz. War sie deswegen ausgebrochen? Sie wollte doch die Unschuld ihres Vaters beweisen! Aber wie sollte das jetzt noch möglich sein? Edna wusste keine Antwort darauf. Erst Harvey beförderte sie in die Realität zurück.
"Und was machen wir jetzt?"
"Erstmal muss ich mir etwas unauffälligeres zum Anziehen besorgen. Aber wo krieg ich das bloß her?"
"Wir könnten irgendwo einsteigen...", schlug der kleine Hase vor. Doch die Dunkelhaarige schien davon nicht sonderlich begeistert.
"Nein, Harvey... dadurch kriegen wir nur noch mehr Probleme", ihr Tonfall klang ein wenig bedauernd. So, als wäre die alte Edna doch noch nicht ganz verloren...

I Shouldn't Be Free...Where stories live. Discover now