Getrennte Wege

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Keiner von ihnen sagte ein Wort, als sie durch das kleine Dorf schlichen. Der Schlüsselmeister hatte Edna getadelt, weil sie nichts mehr dabei hatte, worunter sie ihre auffällige Haarpracht verstecken konnte.
Sie hielten sich von der Hauptstraße fern, niemand durfte sie entdecken. Das Wetter war auf ihrer Seite. Es war neblig und unangenehm kühl für diese Jahreszeit, sodass sich kaum ein Mensch auf den Straßen befand.
Harvey hatte Edna in ihrem Rucksack verstaut. Er sprach sowieso nicht mehr mit ihr, seit sie sich erneut mit dem Schlüsselmeister eingelassen hatte. Außerdem erregte sie ohne ihn weniger Aufmerksamkeit.
Je näher sie der Anstalt kamen, umso unwohler fühlte sich Edna.
Was tat sie hier eigentlich? Sie steuerte geradewegs auf den Ort zu, den sie für den Rest ihrer Tage meiden wollte!
Aber es musste sein. Sie hatte es versprochen. Das war sie dem Schlüsselmeister schuldig. Denn, auch wenn er grausige Dinge getan hatte, letztendlich hatte er es für sie getan.
Auch die Tatsache, dass all die schrecklichen Sachen ihr nur seinetwegen widerfahren waren, blendete sie einfach aus. Er verschuchte schließlich, es wieder gut zu machen. Auf seine eigene Art und Weise.

Es waren nur noch wenige Kilometer bis zu dem großen Gebäudekomplex, der drohend auf dem Berg thronte. Unweit davon erhob sich noch ein zweiter Hügel. Dort oben befand sich die Klosterschule, die sie sich als Kind stets geweigert hatte zu besuchen.
Sie hatten den Fuß des Anstaltsberges gerade erreicht, als sie Sirenen hörten.

Panik stieg in Edna auf. So schnell sie konnte, lief sie tiefer in den Wald. Weg von der Anstalt, weg von den Sirenen.
"Warte Mädchen, das ist die falsche Richtung!", hörte sie ihren Begleiter rufen. Doch sie reagierte nicht. Die Angst war zu real. Die Angst, erneut in die Fänge von Dr. Marcel zu geraten. Sie konnte an nichts anderes mehr denken als ihre Flucht.

Irgendwann hörte sie das Rauschen eines Flusses. Und tatsächlichen, hinter den Bäumen kam ein reißendes Gewässer zum Vorschein.
Edna rang nach Atem. Sie hatte ein schmerzhaftes Stechen in der Seite und auch ihre Beine wollten nicht mehr. Die Anstrengung der letzten beiden Tage forderte ihren Tribut.
Doch eine längere Pause war ihr nicht vergönnt, denn ihre Verfolger waren ihr dicht auf den Fersen. Wie war das möglich? Hatten wie gewusst, in welche Richtung Edna laufen würde?
Aber bevor sie lange darüber nachdenken konnte, kamen schon dutzende Polizisten aus dem Wald hervor. Sie war umzingelt.
Man hatte sie tatsächlich in eine Falle gelockt!
"Ganz ruhig, Mädchen", rief ihr einer der Polizisten zu. Vermutlich ein Kommissar, denn er trug keine Uniform, sondern einen braunen Mantel. Das musste der Mann sein, der mit Dr. Marcel zusammen arbeitete und der die Suche nach ihr leitete.
"Es ist zwecklos, weiter wegzulaufen. Dein Freund war vernünftig und hat das eingesehen."
Sie hatten den Schlüsselmeister also geschnappt. Ihretwegen!
Edna verfluchte sich innerlich, weil sie ihn allein gelassen und völlig den Kopf verloren hatte.
Was sollte sie jetzt tun?
Vor ihr standen die Polizisten bereit, ebenso näherten sie sich von links und rechts. Hinter ihr war der Fluss.
Ganz langsam setzte sie ihren Rucksack ab. Sie musste irgendwie Zeit gewinnen, bis ihr etwas einfiel.
"Was machst du da, Mädchen?", rief der Kommissar.
"Keine Dummheiten, hörst du!"
"Ich möchte nur meinen Hasen rausholen. Er bekommt da drinnen schlecht Luft."
Gut Idee, dachte sich Edna. Spiel die Verrückte und wiege sie in Sicherheit.
"Aber langsam!"
Edna griff nach ihrem flauschigen Weggefährten und sah ihn prüfend an.
"Bereit, Harvey?", flüstere sie ihm zu.
"Wenn du das vor hast, was ich denke, dann immer! Aber hoffentlich werden wir nicht zu sauber."
Die Flüchtige warf noch einen letzten Blick auf den Kommissar, schrie aus voller Kehle "Grüßt mir den Schlüsselmeister!", holte tief Luft und sprang - Harvey fest umklammert - in die Fluten.

I Shouldn't Be Free...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt