Gute Nacht, Noriko-chan

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Noriko sah auf, als ihre Freundinnen lautstark nach Luft schnappten. Verwundert blickte sie nach links und nach rechts, da stieß ihre Freundin Ayumi sie aufgeregt in die Rippen.
„Das ist Kou Mukami", hauchte das Mädchen leise.
Für einen Moment war Noriko verwirrt, dann begriff sie endlich, was gemeint war. Als sie jedoch wieder nach vorne blickte, zuckte sie ein wenig erschrocken zurück, der Junge, der eben noch bei den Schließfächern gewesen war, stand mit einem Mal unmittelbar vor ihr. Eilig hob sie den Blick und sah in zwei meerblaue Augen.
„Yo!", sagte Kou lässig und zwinkerte den drei Mädchen spitzbübisch zu.
„H-hi", stotterte Ayumi zu Norikos linker Seite.
„H-hallo", stammelte dann auch Keiko, die rechts von Noriko saß.
„Hi", sagte Noriko ein wenig unbehaglich, weil sie das Gefühl hatte, ebenfalls etwas sagen zu müssen. Währenddessen überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf regelrecht. Hatte sie etwa so intensiv gestarrt, ohne es zu merken? Unmöglich. Sie war doch nur ein kleines bisschen neugierig gewesen. Außerdem hatte er doch hinten keine Augen.
„Es ist ungewöhnlich kalt, nicht wahr?", meinte Kou leichthin, seine Schultasche locker über seine rechte Schulter geworfen, während er an den Mädchen vorbei in die Dunkelheit blickte.
Smalltalk?, dachte Noriko im Stillen. Oh, bitte nicht ... Sie hasste derartig inhaltsloses Geplauder und war auch nicht wirklich gut darin. Okay, eigentlich überhaupt nicht. Aber zum Glück war sie ja nicht alleine.
Keiko, die von den drei Mädchen wohl am wenigsten Probleme damit hatte, mit fremden Personen zu sprechen, stieg sofort auf Kous Versuch, Kontakt zu knüpfen, ein. „Ja, es ist wirklich selten, dass der Schnee auch liegenbleibt", sagte sie mit einnehmendem Lächeln.
Noriko seufzte innerlich. Das konnte ja heiter werden.
Kou Mukami also. Sie versuchte möglichst unauffällig, den blonden Jungen noch einmal von vorne zu mustern und glücklicherweise schien er ihren Blick dieses Mal nicht zu bemerken, er plauderte stattdessen fröhlich mit Ayumi und Keiko. Gut so.
Kou Mukami.
Vermutlich hatte jeder an Norikos Schule diesen Namen schon einmal gehört und beinahe jeder - allen voran wohl die Mädchen - konnte diesem Namen auch ein Gesicht zuzuordnen. Auch Noriko kannte Kou natürlich, wenngleich sie nicht einmal so richtig wusste, weshalb er eigentlich so berühmt und beliebt war. Sie selbst hatte ihn nur ein paar Mal zufällig gesehen und war der Meinung gewesen, dass er aufgrund seiner voluminösen, blonden Haare und den großen, kristallblauen Augen sowie dem beinahe makellos ebenmäßigen Gesicht ein wenig mädchenhaft wirkte. Die Kette, die er immer um den Hals trug, sowie die Armbänder, verstärkten diesen Eindruck noch. Allerdings war es ja nicht so ungewöhnlich, dass Mädchen auf eher androgyne Typen standen und wenn Noriko ehrlich mit sich selbst war, machte sein leicht feminines - hübsches - Äußeres ihn nicht weniger attraktiv. Eher im Gegenteil.
Kou war, soweit Noriko wusste, bereits im dritten Jahr an dieser Schule, also etwa siebzehn, achtzehn oder vielleicht auch schon neunzehn Jahre alt. Bei Jungs in dieser Phase ihres Lebens war das genaue Alter immer etwas schwer abzuschätzen, aber eigentlich fand Noriko, dass Kou im Vergleich zu anderen seines Jahrgangs eher jünger aussah.
„Seid ihr Mädchen noch aus der ersten Jahrgangsstufe?", wollte Kou gerade mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht wissen. Es wirkte, als lächle er sehr viel.
Gleichzeitig nickten Keiko und Ayumi und strahlten dabei wie ein wenig grenzdebil von einem Ohr zum anderen. Wahrscheinlich starben sie innerlich gerade tausend Tode vor Begeisterung darüber, dass ein Idol so leger mit ihnen sprach.
„Also dann", meinte Kou und deutete mit einem Finger auf das Mädchen links von Noriko. „Ayumi-chan und ..." Er sah zur rechten Seite. „ ... Keiko-chan." Er lächelte, dann fiel sein Blick auf Noriko. „Was ist mit dir? Du hast noch überhaupt nichts gesagt. Wie heißt du?"
Überrascht hob Noriko den Blick. Die drei hatten einander bereits vorgestellt? Sie selbst war so in Gedanken gewesen, dass sie davon überhaupt nichts mitbekommen hatte. Noriko begann, sich unwohl zu fühlen und stand auf. „Ich heiße Noriko. Und wir drei ..." Sie sah über die Schulter zu ihren beiden Freundinnen, „ ... müssen jetzt in unser Klassenzimmer." Sie schulterte ihre Tasche und trat mit gesenktem Blick an Kou vorbei.
„ ... was?", fragte Ayumi verwundert. „Aber wir haben doch noch zehn Minuten Zeit!"
Noriko antwortete nicht, sie ging einfach mit zügigen Schritten den Gang entlang, beinahe war es, als habe sich in ihr eine Art Fluchtinstinkt zu Wort gemeldet.
Unter Kou Mukamis Blick hatte sich Unbehagen in ihr ausgebreitet, und dieses ungute Gefühl wollte sie schnellstmöglich wieder loswerden, darum erleichterte es sie, dass sie diesen Jungen so leicht hatte abschütteln können. Sie hasste es, mit Fremden zu sprechen. Vor allem, wenn dieser Fremde auch noch ... Nein ... Quatsch ... Idol hin oder her ... das hat damit nichts zu tun, unterbrach sie sich selbst.
Kurz darauf hörte sie die eiligen Schritte ihrer Freundinnen hinter sich, die sich, vermutlich nur schweren Herzens, wieder an ihre Fersen geheftet hatten.
„Mann, Noriko", maulte Keiko sogleich und packte den Ärmel von Norikos Schuluniform. „Wie konntest du uns das nur antun? Das war die Gelegenheit!"
Die Gelegenheit wofür?", hakte Noriko wenig begeistert nach und zog Keiko einfach mit sich. War ja klar ... jetzt bin ich die Böse. „Was hattet ihr denn vor zu tun?"
„Mann, du verstehst das nicht", sagte Keiko vorwurfsvoll. „Kou Mukami gehört zu den beliebtesten Jungs der Schule. Er ist ein Idol. Und er hat einfach so mit uns gesprochen."
„An so berühmte Jungs kommen wir Normalsterbliche doch sowieso nicht ran", versuchte Noriko mit einem Lächeln zu argumentieren. Auch wenn sie daran zweifelte, dass sie bei zwei Fangirls mit Vernunft sonderlich weit kommen würde.
„Aber Kou ist total auf dem Teppich geblieben", meinte Ayumi sogleich im Brustton der Überzeugung. „Kein bisschen abgehoben."
„Na dann ... dann geht doch einfach in der nächsten Pause wieder zu ihm", schlug Noriko ihren beiden Freundinnen nonchalant vor und stieg eilig die Treppe hinauf.
Ayumi machte große Augen. „Spinnst du? Das können wir doch nicht einfach so machen."
Noriko verdrehte kaum merklich die Augen. Wie erwartet. Da war nichts mehr zu retten. Wirklich, wenn manche Menschen keine ernsthaften Probleme hatten, dann neigten sie ständig dazu, sich selbst welche zu basteln ... Und das von derjenigen, die gerade einen ganz gewöhnlichen Jungen aus dem Nichts heraus stehenlassen hat, weil sie ein ziemlich irrationales Problem mit Fremden hat ... Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht.
Als die drei Mädchen im Klassenzimmer ankamen und sich dort auf ihre Plätze fallen ließen, war es Keiko, die Noriko noch einmal anstieß. „Aber mal im Ernst, Noriko", sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Warum bist du einfach gegangen?"
„Ja", sagte Ayumi und verschränkte mit deutlicher Schmollmiene die Arme vor der Brust. „Das musst du uns wirklich mal erklären!"
Noriko holte tief Luft und blies ein wenig ratlos ihre Wangen auf. Na, diese Erklärung würde sie ihren Freundinnen wohl bis auf Weiteres schuldig bleiben ...

Sedutive ScentWhere stories live. Discover now