Das Mukami-Anwesen

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Als Noriko aus dem Bus stieg, war die winterliche Kälte draußen im Vergleich zu der stickigen, aber zumindest warmen Luft drinnen wie eine unnachgiebige Wand. Fröstelnd zog sie ihren Schal ein wenig höher, bis zum Ansatz ihrer Nase.
Dann sah sie sich um, doch mehr als einen bedrohlich wirkenden, dunkelgrünen Nadelwald auf der anderen Seite der Straße gab es in der Umgebung nicht offenbar nicht. Es war zwar erst drei Uhr nachtmittags, doch der Himmel war schon den ganzen Tag über bedeckt gewesen, ein typischer Wintertag eben, an dem es irgendwie gar nicht so richtig hell werden wollte. Vielleicht würde es im Laufe des Tages noch schneien.
Noriko war die einzige, die hier ausgestiegen war. Kein Wunder. Was sollte einen auch hierher treiben, weitab von jeglicher Zivilisation? Wirklich, in dieser nativen, nahezu unberührten Umgebung konnte man glatt vergessen, dass man bereits im einundzwanzigsten Jahrhundert lebte. Was nicht zwingend etwas Schlechtes war.
Doch irgendwo hier in der Nähe wohnte auch Kou. Noriko hatte nicht schlecht geguckt, als er ihr diese Bushaltestelle genannt hatte. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass jemand wie er derartig abgeschieden lebte. Aber vielleicht hat er hier auch seine Ruhe ... wer weiß schon, wer ihm anderswo alles an den Fersen kleben würde?
Noriko seufzte und ihr ausgestoßener Atem kondensierte in der kalten, trockenen Luft gut sichtbar zu kleinen weißen Wölkchen, die sich dann nach und nach wieder verflüchtigten.
Mittlerweile konnte sie selbst kaum noch glauben, dass sie seiner Einladung schließlich doch noch, aus einer Eingebung heraus, zugestimmt hatte. Er hatte sie zu sich nach Hause eingeladen. Bei genauerer Betrachtung war das sogar noch schlimmer, als sich irgendwo in der Öffentlichkeit zu treffen, denn immerhin waren solche Orte im Prinzip neutral. Jetzt, wo Noriko Zeit zum Nachdenken hatte, kam die Nervosität in ihrem vollen Ausmaß zurück.
Eigentlich hatte sie sich am Morgen noch vorgenommen, diesen Samstag vollkommen gelassen hinter sich zu bringen, immerhin litt sie ja unter keiner ernstzunehmenden Phobie, sie war einfach nur ein bisschen introvertiert. Und irgendwie war es ihr ja auch vor ein paar Jahren gelungen, sich mit Ayumi und Keiko anzufreunden. Aber dennoch.
Sie atmete noch einmal tief durch und sah sich erneut um. Kou hatte gesagt, er würde sie abholen ... und sie zwang sich, nicht an irgendwelche dummen Streiche zu denken. Das sah einem Oberstufenschüler in seinem Alter nun wirklich nicht ähnlich.
Um sich ein wenig abzulenken, warf Noriko einen Blick auf den Busfahrplan und zog kurz darauf ungläubig die Augenbrauen nach oben. Hier fuhr nur alle drei Stunden ein Bus ...
„Noriko-chan!"
Noriko fuhr erschrocken zusammen. Sie war wohl etwas zu sehr abgelenkt gewesen, denn als sie sich umwandte, stand Kou hinter ihr, keine zwei Meter entfernt, und lächelte sie freundlich an, die Hände wie so oft in den Hosentaschen. Warum habe ich seine Schritte nicht gehört?, fragte sie sich verwundert.
„H-hey", stotterte Noriko noch immer ein wenig nervös, doch sie spürte, wie ein kleiner Teil ihrer Anspannung von ihr abfiel. Er war da, sie war nicht mehr alleine. Der Rest würde sich auch noch ergeben. Sie schob ihren Schal wieder ein Stück nach unten.
Kou kicherte vergnügt. „Habe ich dich erschreckt, Noriko-chan?"
Noriko lächelte. „Ein bisschen", gab sie ehrlich zu.
„Tut mir leid." Kou wandte sich in die Richtung, aus der er offenbar gekommen war, wenngleich Noriko ihn nicht gehört hatte. „Also ... wollen wir dann?" Er streckte einladend einen Arm aus und sah Noriko dabei freundlich an.
Noriko nickte und schob die Hände zurück in ihre Jackentaschen, dann überbrückte sie die knappen zwei Meter Abstand zwischen ihnen, woraufhin Kou sich ebenfalls in Bewegung setzte. Sie folgte ihm und musterte ihn dabei unauffällig.
Als er ihren Blick bemerkte, sah er aus eisblauen Augen auf sie herab und lächelte. „Ist dir kalt?", wollte er dann wissen und sah Noriko aufmerksam von der Seite an.
„Ja, ich bin ein bisschen empfindlich", antwortete Noriko ihm ehrlich.
„Willst du meine Jacke haben?", fragte der Blonde zuvorkommend und machte schon Anstalten, den Reißverschluss aufzuziehen.
Noriko hob überrascht den Blick. „Nein, um Gottes Willen", wehrte sie eilig ab. „Ich halt' das schon aus, mach' dir um mich keine Sorgen. Meinetwegen brauchst du nicht zu frieren", erklärte sie ihm beinahe ein wenig zu hastig und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Ich könnte doch gar keine zweite Winterjacke anziehen, ergänzte sie im Stillen, als wollte sie sich von sich selbst ablenken. „Aber ... danke", fügte sie dann verlegen lächelnd und auch etwas ruhiger hinzu.
Kou neben ihr lachte leise.
Dann schwiegen sie.
Noriko spürte regelrecht, wie sich die Stille schwer auf sie niederlegte und sie biss sich unbehaglich auf die Unterlippe. „Ich ... ich bin gespannt auf dein zu Hause", sagte sie schließlich zögerlich, um dieses unangenehme Schweigen zu durchbrechen.
Kou lächelte sie vergnügt an. „Ich bin sicher, es wird dir gefallen."
Noriko erwiderte das Lächeln ein wenig befangen, dann sah sie wieder auf den Weg.
Ihrer Worte zum Trotz war sie noch immer ziemlich nervös. Kou war nicht das Problem. Nicht mehr. Er war freundlich, und dafür, dass sie sich so doof anstellte, konnte er ja beim besten Willen nichts. Nein, Norikos Problem waren eher die Menschen, die ein fremdes zu Hause unweigerlich mit sich brachte. Eltern, Geschwister, Großeltern ...
Noriko seufzte stumm.
„Was machst du eigentlich neben der Schule, Noriko-chan?", wollte Kou da plötzlich wissen.
Noriko war ihm sehr dankbar für diese simple Frage, bei deren Beantwortung man nicht besonders viel falsch machen konnte. Sicherlich war es gut, wenn sie sich ein bisschen besser kennenlernten. „Hm ... vormittags arbeite ich immer in einem kleinen Blumenladen", antwortete sie ihm. Das klang zwar nicht besonders spektakulär, aber sie war ja auch nur eine normale Schülerin, die sich ein bisschen was dazuverdienen wollte.
„Das meinte ich nicht", sagte Kou, doch es klang nicht vorwurfsvoll. „Ich spreche von deinen Hobbys. Was machst du gern in deiner Freizeit, Noriko-chan?"
„Ach so", murmelte Noriko peinlich berührt. „Ich ... ich spiele seit sechs Jahren Klavier, nur so zum Spaß. Und wenn ich Zeit dazu finde, tanze ich auch."
„Oh, ich tanze auch sehr gern", meinte Kou verschmitzt lächelnd.
Noriko sah ihn überrascht an.
„Was denn?", wollte Kou verwundert wissen. „Denkst du, das passt nicht zu mir?"
Eilig schüttelte Noriko den Kopf „Nein, überhaupt nicht, ich war nur überrascht ..." Wenn sie ehrlich war, passte es sogar ziemlich gut zu ihm ... Fast ein bisschen zu gut, dachte sie und versank noch ein wenig mehr in ihren dicken Wintersachen.
Als Kou unvermittelt stehenblieb, hätte sie ihn, weil sie zwischenzeitlich ein wenig hinter ihm zurückgefallen war, beinahe geistesabwesend angerempelt, doch sie schaltete gerade noch rechtzeitig und hielt ebenfalls an, wenn auch ein wenig verwundert.
Als Kou sich dann zu ihr umwandte, strahlte er regelrecht von einem Ohr zum anderen. „Tada ... Da wären wir!", rief er fröhlich aus und als er ein Stück zur Seite trat, konnte Noriko einen allerersten Blick auf Kous zu Hause werfen.
Noriko blieb der Mund offen stehen vor Staunen. „D-da wohnst du?", stotterte sie entgeistert.
Was da vor ihr lag, würde sie nicht einmal mehr als eine Villa bezeichnen, das war mindestens ein stattliches Herrenhaus, wenn nicht sogar ein kleines Schloss. Kurzum - Noriko gingen fast die Augen über, als sie dieses Gebäude erblickte.
Kou lachte. „Ja, ich weiß, es ist ein wenig protzig. Aber innen ist es total gemütlich."
Noriko schluckte. Wo bin ich da nur reingeraten?
Es wirkte beinahe, als bemerkte Kou ihre Anspannung. „Kein Grund, Angst zu haben", meinte er gutmütig und erneut bedeutete er Noriko, ihm zu folgen.
Mit kleinen, beinahe vorsichtigen Schritten folgte sie dem Blonden nun um den mit ein wenig Schnee bedeckten, kreisrunden Rasen herum, dessen Mitte ein steinerner Springbrunnen zierte, bis zu einer vergleichsweise kleinen Treppe, die zur Haustür hinaufführte.
Kou drückte die schwere Tür auf und ließ Noriko in das Anwesen ein. Und Noriko musste feststellen, dass der Blonde Recht gehabt hatte. Nicht nur, dass es angenehm warm war, die Eingangshalle war auch hoch und hell, wozu vor allem das große - nein, riesige - Fenster auf der gegenüberliegenden Seite beitrug. Dadurch wirkte das große Herrenhaus auf seine Besucher von Beginn an freundlich und einladend und nicht so bedrückend, wie Noriko zuerst erwartet hatte. Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten und schien ihnen in goldenen Orangetönen entgegen, doch sie stand so günstig, dass sie nicht blendete, sondern einfach nur ein angenehm warmes Licht spendete.
„Noriko-chan, gibst du mir deine Jacke?", fragte Kou und wartete geduldig, bis Noriko ihre dicke Jacke sowie den grauen Schal ausgezogen hatte und er beides an einen Kleiderhaken hängen konnte. Dasselbe tat er gleich darauf auch mit seinen eigenen Sachen.
„Dankeschön", sagte Noriko höflich und wandte sich dann um.
Der Anblick, der sich ihr bot, war traumhaft. An den kunstvoll gearbeiteten Glasscheiben sprossen Eisblumen in allen Formen und Größen und das goldene Abendlicht unterstrich diese Schönheit nur noch. Und das war allein die Augenweide, die das Fenster bot.
Links und rechts führten zwei mit blauem Samtteppich ausgelegte Treppen hinauf in den zweiten Stock, jedoch nicht, ohne noch einmal eine elegante Wende in die andere Richtung gemacht zu haben. Die Türen, die zum zweiten Stock gehören mussten, lagen von Norikos Standpunkt aus gesehen genau neben ihr, nur eben drei bis fünf Meter in der Höhe.
Zwischen den beiden Treppen standen drei bequem aussehende Sofas, die dazu einluden, sich dort niederzulassen und der Wintersonne beim Versinken zuzusehen.
„Und, was hab' ich gesagt?", fragte Kou fast ein wenig stolz.
„Es ist ... atemberaubend", bestätigte Noriko beinahe wie betäubt.
Kou kicherte. „Ja, nicht wahr?" Im nächsten Augenblick klang seine Stimme wieder vollkommen ernst, mehr schwermütig als amüsiert, so wie sonst immer. „Ich mag mein zu Hause." Er trat neben sie und ihre Arme berührten sich dabei, und für ein paar Augenblicke sahen sie einfach nur der tiefstehenden Sonne dabei zu, wie sie kaum merklich weiter versank. Dann schließlich sah Kou Noriko an. „Komm', Noriko-chan", sagte er und trat zu der rechten Treppe, legte eine Hand auf das Geländer und sah abwartend über die Schulter zurück.
Schweren Herzens löste Noriko sich von dem wunderschönen Anblick und folgte Kou. „Das ist wirklich unglaublich", sagte sie dann noch einmal mit vor Aufregung glühenden Wangen.
„Möchtest du, dass ich dir das ganze Haus zeige?", bot Kou ihr an.
Noriko nickte. „Sehr gerne", stimmte sie ohne Zögern zu und stieg direkt hinter ihm die Treppe hinauf, allerdings blieb sie noch einmal kurz stehen und blickte erneut aus dem Fenster. Direkt an das Haus grenzte ein kleiner Garten, der im Sommer wohl sehr schön sein musste. Sie sah auch ein gläsernes Gewächshaus, das im Sonnenlicht ebenfalls funkelte. Erst als sie hörte, wie Kou die Tür öffnete, wandte sie sich wieder zu ihm um.
Kou lachte. „Es scheint dir wirklich zu gefallen", stellte er vergnügt fest.
„Ja, das tut es ... wirklich." Eilig folgte Noriko Kou durch die Tür.
Es folgte eine weitere, „normale" Treppe, dann führte der Blonde seinen Besuch in einen Flur mit vielen verschiedenen Türen, die auf den ersten Blick alle gleich aussahen. In einem so riesigen Haus würde ich mich ständig verlaufen, dachte Noriko bei sich und sah sich immerzu neugierig um.
„Hier ist mein Zimmer", sagte Kou schließlich und seine Hand umschloss die vergoldete Türklinke, dann schob er die Tür auf und bedeutete Noriko, voranzugehen.
Ein wenig zögerlich betrat Noriko den Raum und stellte fest, dass Kous Zimmer, verglichen mit dem restlichen Anwesen, recht klein und bescheiden war, was es ihrer Meinung nach auch gleich noch ein wenig wärmer und heimeliger wirken ließ.
Sie sah große, in die Wand eingelassene Schränke, deren Holz kunstvoll geschnitzt und verziert worden war und ein großes Bett, das für eine einzelne Person schon beinahe zu viel Platz bot, davor lag ein Teppich und in der Ecke stand ein Stuhl, über dem einige Kleidungsstücke hingen. Aber sonst war das Zimmer sehr aufgeräumt, jedoch, ohne zu steril zu wirken. An der Wand entdeckte Noriko eine Kommode mit einem kleinen Spiegel. Auch lagen darauf einige Ketten und Armbänder, die Kou sie beinahe immer trug.
„Ach", meinte Kou da plötzlich gedehnt und ging zu dem Stuhl hinüber, über dem die zwei Hosen und das schwarze T-Shirt hingen. „Kennst du das, wenn du aufräumst und alles irgendwie nur von einem Ort zum anderen wandert?" Er grinste und verstaute seine Sachen eilig in einem der Schränke. „Heute Morgen war ich wohl etwas in Eile."
Heute Morgen? Hat er etwa aufgeräumt, weil ... „Dein Zimmer ist wirklich schön, Kou-kun", sagte Noriko und es kam ihr leichter über die Lippen, als sie zuerst gedacht hatte. Ungezwungen. „So gemütlich." Sie lächelte und trat zu der Kommode, ließ kurz ihren Blick über die verschiedenen Utensilien schweifen, dann fiel ihr das kleine, tiefblaue Glasfläschchen ins Auge. Das ist wirklich ... Ist ja 'n Ding. Ein feines Lächeln huschte ihr übers Gesicht und sie blickte wieder zu Kou.
Dieser erwiderte das Lächeln, dann ging er wieder zur Tür. „Aber das hier ist noch nicht alles", sagte er. Er hatte ihren Blick auf das Parfumfläschchen nicht bemerkt. „Vor allem das Wohnzimmer ist einen Besuch wert, denke ich", meinte er fröhlich.
Noriko grinste und schlüpfte an ihm vorbei zurück in den Flur. Während sie noch einmal den Gang entlanggingen, betrachtete Noriko nachdenklich die anderen Türen. Wer wohl noch so mit Kou-kun hier lebt? Und wie seine Eltern wohl drauf sind? Doch sie traute sich nicht, ihre Fragen laut auszusprechen.
„Ach, und hier ist das Badezimmer", sagte Kou noch und stieß eine weitere Tür auf.
„Wow." Mehr fiel Noriko dazu nicht ein. Allein der strahlende Goldton an den Wänden wirkte auf sie bereits erschlagend, von der luxuriösen Badewanne, dem exquisiten Waschbecken und den schweren tiefgelben Vorhängen ganz zu schweigen.
Kou grinste bloß und schloss die Tür wieder, dann schickte er sich an, eine der Treppen wieder hinunterzusteigen und Noriko folgte ihm. Im Anschluss führte Kou sie in ein nicht minder teuer ausgestattetes Wohnzimmer, in dem ein dunkles Blau zusammen mit einigen Grüntönen dominierte. Vor allem die gewaltigen Vorhänge präsentierten sich in diesen Farben, aber auch die Wandtäfelung sowie der Teppichboden und die Sofas. Allein die Tatsache, dass es mehr als drei davon gab, fand Noriko schon beeindruckend genug. Dazu kamen noch die bis auf den letzten Platz ausgefüllten Bücherregale und die mit Blumen dekorierten Couchtische, alles aus dunklem, edel anmutendem Holz gefertigt.
„Magst du Bücher, Noriko-chan?", wollte Kou wissen und blieb vor einem der Bücherregale stehen, strich kurz über die Buchrücken. Allein die Einbände sahen teuer aus.
Ein wenig zögerlich nickte sie. Das hier war mehr als eine Bibliothek. Das hier waren sicherlich wahre Schätze. „Ja, ich lese ganz gerne", bestätigte sie und sah sich weiterhin staunend um. Jeder Raum in diesem gigantischen Haus wirkte warm und freundlich ...
Ein wenig erschrocken zuckte sie zurück, als sie plötzlich einen dunkelhaarigen Mann bemerkte, der auf einem der tief türkisfarbenen Sofas saß und in einem Buch blätterte. Noriko hatte seine Anwesenheit überhaupt nicht bemerkt ...
Als er aufsah und ihr Blick den seinen kreuzte, musste Noriko schwer schlucken. Der Blick, der sie traf, war finster und zugleich berechnend, die graublauen Augen stechend und eiskalt.
„Ah, das ist mein Bruder Ruki", sagte Kou in diesem Augenblick und mit einem Mal war der Blonde Noriko ganz nah, sie konnte spüren, wie er eine Hand auf ihren Rücken legte und seltsamerweise war sie ihm sogar dankbar für diese dezente Geste.
„Hallo", sagte Noriko leise und neigte leicht den Kopf vor dem Schwarzhaarigen, während ihre Hände nervös den Saum ihres Pullovers kneteten.
Rukis Blick jedoch suchte nur den seines Bruders. „Kann ich dich einen Moment sprechen?", fragte er, und obwohl er eigentlich eine warme Stimme hatte, klang er sehr unterkühlt.
„Huh?", machte Kou, dann verließ ein Kichern seine Kehle. „Nein, jetzt gerade nicht. Ich bin beschäftigt." Er grinste und Noriko bemerkte, dass er sich, hinter ihr stehend, so weit über ihre Schulter gebeugt hatte, dass seine Wange beinahe ihr Ohr streifte. „Also, bis später!", sagte der Blonde dann und legte einen Arm um Norikos Schulter, um sie sanft mit sich fortzuziehen.
„Was hat denn dein Bruder gegen mich?", fragte Noriko verwundert, nachdem die Tür zum Wohnzimmer hinter ihnen ins Schloss gefallen war.
„Ach", machte Kou nur und winkte ab. „Er mag es nicht, wenn ich einfach so Freunde hierher einlade. Aber mach' dir nichts draus, ich habe da schließlich auch noch ein Wörtchen mitzureden." Wieder dieses fröhliche Kichern und ein keckes Zwinkern.
„Okay", meinte Noriko bloß und versuchte, das Gefühl der Unerwünschtheit zu ignorieren. Ich bin wegen Kou-kun hier, und nicht wegen seines Bruders ...
„Hey, Noriko-chan, magst du Blumen?", fragte Kou da plötzlich.
„Ähm ... ja, manche schon", antwortete sie ihm ein wenig überrumpelt.
„Dann lass' uns raus in den Garten gehen", sagte Kou und griff nach Norikos Hand, zog sie mit sich zu einer Hintertür, die hinaus in den leicht verschneiten Garten führte.
Selbstverständlich war es noch immer viel zu kalt, um nichts weiter als einend dünnen Pullover zu tragen und Noriko fröstelte augenblicklich. Außerdem war es mit dem heraufziehenden Abend noch ein wenig kälter geworden.
„Keine Sorge, im Gewächshaus ist es angenehmer", sagte Kou nur und kurz darauf erreichten sie besagtes Glasgebäude, das von den Sonnenstrahlen tatsächlich aufgeheizt worden war.
Als Noriko von der warmen Luft eingehüllt wurde, rieb sie sich leicht über die Arme, auch wenn das selbst ihr ein wenig übertrieben vorkam. Hinter ihr schloss Kou die Glastür wieder. Sie schrak zusammen, als sie dann plötzlich die Hand des Blonden auf ihrer Wange spürte und überrascht wandte sie sich zu ihm um, woraufhin er seine Hand wieder zurückzog.
„Du bist schön warm, Noriko-chan", stellte Kou grinsend fest.
„Und deine Hände sind ganz kalt", erwiderte Noriko noch ehe sie darüber nachgedacht hatte.
„Ah, ja ...", meinte Kou und kratzte sich beinahe verlegen am Hinterkopf.
Einen Moment lang zögerte Noriko, dann griff sie nach Kous anderer Hand und umfasste sie mit ihren beiden Händen, um sie ein wenig zu wärmen, auch wenn es mehr eine freundliche Geste war als wirklich von Nutzen. Kaum dass ihre Haut seine berührte, stutzte Noriko. Seine weiße Haut war wirklich außergewöhnlich kühl.
Kou jedoch lächelte nur wie immer freundlich. „Danke, Noriko-chan. Deine Hände sind wirklich schön warm", wiederholte er noch einmal.
Noriko erwiderte das Lächeln ein wenig verlegen, doch sie ließ seine Hand nicht los, es schien ihn ja nicht weiter zu stören, eher im Gegenteil.
„Kou."
Eine herrische, dunkle Stimme ließ sie beide überrascht aufsehen.
„Ah, Yuma-kun", sagte Kou und grinste. „War ja klar, dass wir dich hier antreffen."
Nun ließ Noriko Kous Hand doch los und wandte sich um. Unweit von ihnen entfernt stand ein wahrer Riese von einem Mann, sicherlich an die zwei Meter groß. Er hatte hellbraune, lange Haare, die er jedoch bis auf ein paar vereinzelte widerspenstige Strähnen hochgesteckt hatte. In seiner Hand hielt er eine gelbe Gießkanne.
Wieder spürte Noriko Kous Berührung, dieses Mal umfasste er von hinten mit einer Hand ihre Schulter und brachte sein Gesicht erneut ganz nah an ihres. „Das ist mein jüngerer Bruder, Yuma. Er ist auch derjenige, der sich um das Gewächshaus und den Garten kümmert."
Noriko hob überrascht die Augenbrauen. Jünger?
Auch Yuma schien amüsiert und er stemmte eine Hand in die Hüfte. „Hast du es wirklich nötig, so sehr zu betonen, dass du der Ältere von uns beiden bist?"
Es stimmt. Kou sieht nicht wirklich älter aus ... und überhaupt, die beiden sehen sich auch gar nicht ähnlich. Und auch dieser Ruki von vorhin hat kein bisschen Ähnlichkeit mit ihm. Und bei Ruki und Yuma ist es dasselbe ...
„Tz", machte Kou nur gespielt beleidigt und blies gekränkt die Wangen auf.
Im nächsten Augenblick verflog die lockere Atmosphäre jedoch schlagartig, es war, als strahlten die beiden Brüder mit einem Mal eine ganz eigene Kälte aus, hätte Noriko gerade ein Thermometer zur Hand gehabt, hätte man die Temperatur darauf wahrscheinlich deutlich fallen sehen. Was ist das nur ... ?
„Kou, wer ist dieses Mädchen?", wollte Yuma nun mit ernstem Blick wissen.
Noriko spürte, wie der Druck um ihre Schulter noch ein wenig mehr zunahm. „Sie ist eine Freundin von mir, Noriko-chan", erklärte Kou, doch er klang gar nicht so fröhlich wie sonst immer, vielmehr klang seine Stimme plötzlich ungewöhnlich tief und ... bedrohlich.
Noriko schluckte und versuchte, Kou unauffällig abzuschütteln, und zu ihrer Erleichterung nahm er seine Hand auch sogleich wieder weg. Was ist das nur?
Mit dem nächsten Wimpernschlag war der Spuk auch schon wieder vorbei. „Also dann", sagte Yuma, als hätte es den vorangegangenen Wortwechsel nie gegeben. „Ich mach' mich dann mal wieder an die Arbeit. Bleibt anständig, ihr beiden." Mit diesen Worten hob er kurz die Hand und stapfte dann an ihnen vorbei zu ein paar zierlichen Zucchinitrieben.
Es war, als wäre urplötzlich ein zentnerschwerer Stein von Norikos Brust genommen worden und erleichtert atmete sie auf. Was war das denn?, fragte sie sich fast ein wenig benommen, so als ob sie gerade eben erst aus Eiswasser gekrochen wäre. Das hab' ich mir doch nicht nur eingebildet! Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, als wollte sie ein lästiges Insekt loswerden, dann sah sie Kou an. Kurz schätzte sie ab, ob Yuma sie noch hören konnte, doch dann ging dieser ohnehin zur Tür und verließ das Gewächshaus. Ein kalter Luftzug fegte zu ihnen herein. „Was ... was meinte Yuma-kun eben mit ,bleibt anständig'?", wollte sie ein wenig verwundert wissen und sogleich schimpfte sie sich eine Idiotin. Sie klang wie ein unwissendes Kind.
Kou sah auf sie herab und legte eine Hand an seine Hüfte, während er sich mit der anderen durch das blonde Haar fuhr. „Tja ... wer weiß?" Er kicherte kurz. „Und, Noriko-chan, gefällt es dir hier?", fragte er und ließ seinen Blick über Blumen und Gemüsepflanzen schweifen.
Noriko folgte seinem Blick kurz, dann nickte sie. „Ja, es ist sehr schön hier. Habt ihr diese Pflanzen im Sommer draußen?", wollte sie neugierig wissen.
Kou nickte. „Vor allem die Tomaten haben es ihm angetan", sagte er. Sein Blick fand wieder zu Noriko und es schien, als ringe er mit sich selbst, sie konnte sehen, dass er zögerte.
Aber mit was?
Noriko bemerkte es. „Ist etwas, Kou-kun?", fragte sie verwundert.
„Ich weiß nicht ...", sagte Kou leise, dann beugte er sich zu ihr herunter, wie er es schon öfter getan hatte, doch dieses Mal war es anders. „Du riechst gut, Noriko-chan", raunte er.
Noriko wich ein kleines Stück zurück, allerdings nicht viel. Nur genug, um ihm noch immer in die Augen sehen zu können. In ebendiesen blitzte plötzlich für den Bruchteil einer Sekunde etwas auf, das Noriko nicht zuordnen konnte. Dann waren mit einem mal seine Hände an ihren Handgelenken und alles ging sehr schnell - von einer Sekunde auf die andere fand sie sich mit dem Rücken am kalten Glas des Gewächshauses wieder.

* ~ * ~ * ~ *

Heeey, ich hab die 3000-Wort-Marke für ein einzelnes Kapitel geknackt ;D UND es ist zusätzlich ein großes Ganzes ohne ~ dazwischen ;D
Ich bin ehrlich gesagt ziemlich zufrieden. Was meint ihr?

Okay, bis denne ;D

Sedutive ScentWhere stories live. Discover now