Mauerblümchen

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Ayumi seufzte und nahm ihre Schultasche auf. „Bald Wochenende.“ 
„Noch drei Stunden“, fügte Keiko wenig begeistert hinzu. 
„Und, was treibt ihr morgen so?“, wollte Noriko wissen, während sie eilig ihre Sachen zusammenpackte. Sie mussten den Raum wechseln, nur dummerweise war Noriko immer die letzte, die ihr Zeug verstaut hatte. Warum, war ihr schon immer ein Rätsel gewesen. 
„Chillen“, antwortete Keiko ihr wie aus der Pistole geschossen. 
„Ich geh’ mit ein paar Mädels vom Orchester shoppen“, sagte Ayumi. „Magst du auch mitkommen, Noriko?“, wollte das Mädchen mit den seidig glänzenden, langen Haaren wissen. 
„Hm, nein“, wehrte Noriko mit einem Kopfschütteln ab. „Ich denke, ich werde es Keiko gleichtun und den freien Tag genießen.“ Sie lächelte bei dem Gedanken daran. Musik hören und einfach entspannen. Man war ja die Woche über genug auf Trab.
„Okay“, sagte Ayumi und drückte Noriko auffordernd ihre Federtasche in die Hand. „Los, beeil’ dich, wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.“ 
„Ja, ja, was denkst du denn, was ich hier tue?“, fragte Noriko ein wenig angefressen zurück und versuchte erfolglos, auch noch den Reißverschluss zuzuziehen, doch ihre Tasche war zum Platzen voll. Warum zum Kuckuck geht sowas nie, wenn man es eilig hat?, fragte Noriko sich leise fluchend, ehe sie den Reißverschluss Reißverschluss sein ließ und stattdessen eilig zu ihren beiden Freundinnen aufschloss. 
Als sie an ein paar Sesseln vorbeigingen, die im Schulgebäude für diejenigen, die gerade keinen Unterricht hatten, aufgestellt worden waren, ließ Noriko kurz ihren Blick über die dort sitzenden Schüler schweifen. Beinahe erschrocken weiteten sich ihre Augen, als sie unter vier Mitschülern aus dem dritten Jahrgang auch Kou entdeckte. 
Während sie insgeheim noch hoffte, dass Ayumi und Keiko ihn nicht bemerken würden, nahm sie aus dem Augenwinkel wahr, wie sein Gesicht sich urplötzlich aufhellte und er Anstalten machte, sich zu erheben. Da Noriko hinter Ayumi und Keiko herlief, konnte sie sich für einen winzigen Augenblick knapp zu ihm umwenden. Und sie hoffte, dass ihr Blick Bände sprach. Sprich mich bloß nicht an, wehe dir, du sprichst mich an! Beinahe betete sie es wie ein Mantra vor sich her, auch nachdem sie sich schon wieder umgedreht hatte und weitergelaufen war. Und tatsächlich geschah nichts. 
Noriko konnte selbst nicht so recht sagen, warum sie nicht mit ihm sprechen wollte. 
Einerseits irritierte er sie, allein dadurch, dass er sie am vergangenen Tag im Prinzip zwei Mal aus heiterem Himmel angesprochen hatte. Gut, das erste Mal hatte vielleicht nichts mit ihr zu tun gehabt, da waren auch noch Ayumi und Keiko dabei gewesen und außerdem hatte es nur eine harmlose Plauderei sein sollen, aber das nach Schulschluss … das war unleugbar an sie gerichtet gewesen. Und nur an sie. Außerdem war Kou dieses Mal nicht alleine gewesen. Das um ihn herum waren sicherlich Kumpels aus seiner Klasse und wer wusste schon, wozu es geführt hätte, wenn dieser sehr offene Junge sie zu ihnen geholt hätte? Allein der Gedanke verursachte Noriko ein starkes Gefühl der Befangenheit in ihrer Magengegend.
Aber es ist ja alles gutgegangen. Also kein Grund, weiter darüber nachzudenken. Dummerweise war das jedoch leichter gesagt als getan. Denn die Frage, warum er sie offensichtlich hatte ansprechen wollen, blieb natürlich. 
Vielleicht hätte Noriko sich glücklich schätzen sollen, denn egal was er sagte, er war berühmt. Die Mädchen scharten sich regelrecht um ihn, wie Hennen um einen Gockel … oder in seinem Fall vielleicht auch um einen farbenprächtigen Pfau. 
Doch Noriko lag nichts daran, Kou Mukami nahe zu sein. Sie hatte ihre beiden Freundinnen und das war gut so. Viel mehr Menschen brauchte sie in ihrem Leben nicht. 
Aber warum rechtfertige ich mich dann so sehr vor mir selbst? Sie seufzte leise. Okay, jetzt mal im Ernst. In Wahrheit bin ich doch nur nervös, weil er gut aussieht und ich noch nie ernsthaft mit einem fremden Jungen gesprochen habe. Und dass jetzt ausgerechnet er meine Nähe sucht … Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Unsinn. So sollte sie nicht darüber denken. Sie hatten zwei Mal miteinander gesprochen und er hatte sie auch ein drittes Mal ansprechen wollen, aber das bedeutete nichts. Hör’ einfach auf, Noriko … das führt doch zu nichts. Kou-kun wollte einfach nur höflich sein, nichts weiter. Sie ließ den Kopf hängen. Und mir fällt nichts Besseres ein, als ihn ständig abzuwimmeln. Ich bin wirklich dämlich. 
„Hey, Noriko, alles in Ordnung mit dir?“, fragte Ayumi, die bemerkt hatte, dass ihre Freundin nicht nur still geworden war, sondern auch immer weiter hinter ihr und Keiko zurückfiel. 
Überrascht sah Noriko auf. „Ich … ja“, sagte sie schnell und beschleunigte ihre Schritte, bis sie wieder neben ihren beiden Freundinnen herlief. „Hatten wir Hausaufgaben auf?“
„In Englisch, ja“, bestätigte Keiko. „Hab’ ich aber nicht gemacht.“ 
„Zum wievielten Mal jetzt schon?“, fragte Ayumi tadelnd. 
„Zum dritten … oder zum vierten … ?“
Ayumi seufzte schwer. „Willst du bei mir abschreiben?“
Keiko grinste. „Danke, Ayumi.“ 
„Hey, wenn du schon weißt, dass wir Hausaufgaben aufhaben, dann solltest du sie auch wenigstens machen“, mischte Noriko sich ein. 
„Ist mir eben erst wieder eingefallen“, murrte Keiko. 
Noriko und Ayumi tauschten nur einen entnervten Blick und seufzten gleichzeitig auf. 

Sedutive ScentWhere stories live. Discover now