Kapitel 1

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Ich schreckte aus meinem Schlaf auf. Ein lautes Poltern an der Tür meines Wohnwagens hatte mich geweckt. Langsam rappelte ich mich auf, streckte meine verspannten Glieder und strich mir immer noch etwas schlaftrunken die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Ich war wohl auf dem Sofa des kleinen Wohnwagens eingeschlafen, den ich bewohnte. Durch die dunklen Vorhänge trat etwas Morgenlicht ins Innere und beleuchtete das Sofa, die spärlich eingerichtete Küche und mein Bett, welches etwas weiter rechts in einer Ecke stand. Der Wohnwagen hatte, neben dem Badezimmer, bloss einen weiteren Raum. Dieser diente als Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer zugleich. Dennoch hatte ich mehr als genug Platz für meine wenigen Besitztümer. Mein Wohnwagen war im Vergleich zu den Anderen auf dem Wohnwagenplatz sogar ziemlich aufgeräumt. Regelmässig machte ich mir die Mühe aufzuräumen und zu putzen. Ich wollte nicht auf einer Müllhalde leben, so wie es einige der anderen Southside Serpents ohne Frau und Kinder taten. Ein erneutes energisches Klopfen an meiner Tür sowie der Ruf "Joaquin mach auf!" erinnerte mich daran, weshalb ich erwacht war. Ich bliess lautstark Luft aus und ging zur Tür um sie zu öffnen. Als das grelle Sonnenlicht auf meine eisblauen Augen traf, bereute ich die Entscheidung jedoch sofort und hielt mir die Hand vor die Augen. Vor mir stand Toni Topaz, wie immer mit pinken Haaren und Lederjacke. "Was?", murmelte ich und blinzelte ein paar Mal gegen das grelle Licht an. "Wir müssen los. Die Ferien sind vorbei Schlafmütze", bemerkte die junge Frau mit einem Lächeln auf den Lippen und mein Blick fiel auf die anderen schulpflichtigen Serpents, die sich schon mit den Motorrädern versammelt hatten. Ich war die letzten paar Wochen so durcheinander gewesen, dass ich komplett vergessen hatte, dass die Schule wieder losging. "Ich komm nach", meinte ich schliesslich bevor ich wieder in die Dunkelheit meines Wohnwagens floh und die Tür hinter mir zuknallte. Nach dem grellen Licht von draussen schien hier drin alles rabenschwarze Nacht zu sein. Während sich meine Augen an das spärliche Licht gewöhnten, raufte ich mir die Haare. Es war nicht die Tatsache, dass ich verschlafen hatte, die mir Kopfschmerzen bereitete. Den Lehrern war sowieso egal wann und ob man überhaupt zur Schule kam. So war die Southside High. Nein, ich hatte Mühe zu verdauen, dass das Leben weiter ging. Die Schule begann wieder, ein neues Schuljahr startete. Aber sonst war alles beim Alten. Wir Serpents würden uns mittags mit den Ghoulies anlegen, ich würde mich durch Englisch und Geschichte kämpfen müssen und weiterhin in Physik glänzen. Die Welt drehte sich weiter, als ob nichts gewesen war. Als ob da nicht eine Leiche in der Kühltruhe im Keller des Whyte Wyrm liegen würde, von der nur ich und FP Jones wussten.

Obwohl ich schlecht geschlafen hatte, war ich dann doch ziemlich schnell. Ich zog mich in Windeseile um, trank einen schwarzen Espresso und schwang mich schliesslich auf mein Motorrad, um zur Southside High zu fahren. Der Fahrtwind klärte meine Gedanken und ich sinnierte einen Moment darüber nach, wie sehr ich mein Motorrad liebte. Einer dieser reichen Northside Schnösel hatte es zu Grunde gefahren und auf dem Schrottplatz weggeworfen. Dort hatte ich es gefunden und selbst wieder auf Vordermann gebracht. Und darauf war ich stolz. Als ich das Klassenzimmer betrat, bemerkte ich kaum Blicke auf mir. Es war nicht ungewöhnlich, dass jemand zu spät zum Unterricht kam. Selbst jetzt, eine halbe Stunde nach Schulbeginn, waren noch vier Plätze frei. Aber es war eben nicht meine Art zu spät zu kommen, deshalb erregte ich einen fragenden Blick vom Lehrer. Ich liess mich auf meinen Stuhl fallen, froh um meine Lederjacke mit dem Serpent-Logo. Sie wehrte alle Blicke ab, beschützte mich. So wie es die Serpents gemacht hatten, seit ich das erste Mal noch auf wackligen Beinen durch den Wohnwagenpark gelaufen war. Doch vor dem Horror langer Schulstunden konnte sie mich nicht bewahren. Und dieser Montagmorgen war speziell schlimm. Ich hatte nicht nur mit meinen Augenlidern zu kämpfen, die immer wieder zufallen wollten, sondern auch die Gedanken an den rothaarigen Jungen, der heute definitiv nicht in der Schule erscheinen würde, hielten mich davon ab mich zu konzentrieren. Deshalb war meine Erleichterung auch gross, als die Klingel zur Mittagspause ertönte. Die Schülermassen drängten sich in die Cafetaria und das Essen war wie immer schlecht. Ich stocherte bloss in meiner Portion herum, während ich nebenbei an einer Zigarette zog. Keine fünf Meter von mir rangelte gerade einer der jüngeren Serpents, Rooney, mit einem der Ghoulies. Niemandem schien aufzufallen, dass ich heute noch ruhiger war als sonst. Aber ich konnte es ihnen nicht übelnehmen. Ich war noch nie ein Mann vieler Worte gewesen. Seit meine Mutter ihr Versprechen gebrochen hatte indem sie mich nie holen kam, liess ich lieber Taten für mich sprechen. Worte waren wertlos. Es wäre wohl eher ungewöhnlich gewesen, wenn ich zum Senior Year plötzlich zu einer Plappertasche geworden wäre. Mein Blick richtete sich auf meinen Teller und ich schnippte den Rest meiner Zigarette hinein. Hunger hatte ich sowieso nicht mehr. Einen Tisch weiter sassen zwei jüngere Mädchen an ihren Smartphones, die mit ihrem Gespräch meine Aufmerksamkeit auf sich zogen: "#Neverforget, #RIPJason, #staystrong. Diese Northsider sind so erbärmlich." Mein Magen drehte sich um. Es war noch keine Woche her, da hatten die Blossoms einen leeren Sarg beerdigt. Und nur ich, FP und Mustang wussten, wo sich der Körper befand, der in diesem Sarg hätte liegen sollen. Nervös fuhr ich mir durch die Haare und schloss für einen Moment die Augen. Als ich diese dann wieder öffnete, hatte er das Gefühl wieder Blut an meinen Händen zu haben. Ich wusste, dass ich mir das alles nur einbildete. Schliesslich hatte ich mir seither bestimmt 50 Mal die Hände gewaschen. Das war alles nicht mehr real, es lag hinter mir. Und dennoch jagten mich die Bilder dieses Abends beinahe jede Nacht durch meine Träume. "Joaquin, kannst du dir mal mein Motorrad ansehen? Es will nicht anspringen", hörte ich dann plötzlich eine vertraute Stimme. Fangs sass mir schräg gegenüber am Tisch und sah mich erwartend an. Ich nickte, froh darüber eine Ablenkung gefunden zu haben.

Auf der anderen Seite der SchienenWhere stories live. Discover now