Nicolas

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Kapitel 3

Im Hausflur war es genauso unwohnlich wie es in ihrer Wohnung war. Das Treppengeländer war von Spinnweben überzogen, auf den Stufen sammelte sich der Dreck und die Wände waren von Graffitis überzogen. Hier und da fehlte bereits der Putz und Violet war zufrieden als sie an ihrer Haustür ankam, sie aufschob und wieder verschließen konnte.

Endlich Zuhause. Ein beschissenes Ende, eines beschissenen Tages, in einem beschissenen Leben. Ein unsterbliches beschissenes Leben, in dem sie nur hoffen konnte irgendwann genug zusammen gespart zu haben, um dem allen zu entkommen.

Violet pellte sich aus der verschlissenen Jacke, zog sich den ebenfalls nassen Pulli über den Kopf und huschte ins Bad um sich mit einem Handtuch die Haare und den Oberkörper trocken zu reiben. Aus dem gesprungenen Spiegel starrte sie ein eigentlich sehr hübsches Mädchen an. Ein rundes Gesicht, große, graue Augen umrahmt von dunklen Wimpern und pechschwarzem Haar, das ihr ohne irgendeine Welle über die Schultern fiel. Den geraden Pony schnitt sie sich selbst, genauso wie den Rest ihrer Haare. Was zu einer einfachen Frisur führte, die aufgrund ihrer glatten Haare zeitlos modern sein würde.

Der einfache dunkle BH, den sie trug, brachte ihre vollen Brüste mehr als gut zur Geltung und lenkte davon ab, dass sie zwar eine schlanke Sanduhr förmige Figur aber definitiv keine Muskeln hatte. Sportlich war ihr Körper definitiv nicht, aber das musste er auch nicht. Sie war so stark wie drei Männer, und zwar ganz ohne irgendein Training.

Sie beschloss die nasse Hose anzulassen, griff aber nach dem Verschluss ihres BHs, als ein Schatten in ihrem Augenwinkel sie zusammen zucken ließ. Nicolas.

Sie erstarrte in ihrer Bewegung, warf den Kopf nach links, um ihn anzusehen und starrte zurück.

Er stand lässig an der Flurwand, die muskulösen Arme verschränkt. Sie steckten in einem schwarzen Hemd, dass wertvoller schien als alles was sie je besessen hatte. Seine Gesichtszüge waren genau das Gegenteil von ihren. Lang, kantig, unfreundlich. Ja, okay. Ihre waren auch immer unfreundlich, wenn sie ihn sah. Vielleicht war das ihre einzige Gemeinsamkeit. Am faszinierendsten waren aber seine Augen. Sie waren dunkel, hatten aber eine unheimliche tiefe, die so lebendig schien als führten sie eine eigene Existenz. Die Narben auf seinem Gesicht betonten dies noch. Sie erinnerte sich daran einmal versucht zu haben diese Narben zu zählen, doch es war ihr nicht gelungen. Nur die größeren, offensichtlicheren boten sich dafür an.

Eine große zog sich von seinem Kinn bis hinunter zu seinem Schlüsselbein, zwei weitere an seiner linken Schläfe und eine etwas auffälligere über seinen Nasenrücken bis zu seinem rechten Ohr. Das waren die, die man sofort sah, doch da waren noch mehr. Andere Narben, ältere Narben, die von seiner bronzefarbenen Haut so gut kaschiert wurden, dass man sie auf den ersten Blick nicht sehen konnte. Er sah aus wie jemand, der mehr als einmal in Schwierigkeiten geraten war und dennoch wirkte er viel zu kalt, viel zu reserviert, als dass er sich auf Auseinandersetzungen einlassen würde.

„Ist es zu viel verlangt, dich zum Teufel zu scheren?", fragte sie bissig und verharrte noch immer in der Position, in der nur noch eine Bewegung fehlte um ihren BH loszuwerden. Nicolas zog eine Augenbraue nach oben, die nicht ganz so dunkel war wie ihre eigene. Sie hatte sein Haar nie im Sonnenlicht gesehen, immer nur in der spärlichen Beleuchtung ihrer Wohnung oder der Straßen Laternen, aber sie tippte bei seiner Haarfarbe auf ein dunkles blond oder ein helles braun.

Er stieß sich desinteressiert von der Wand ab, verschwand in Richtung Haustür und sprach noch im Gehen.

„Blut ist im Kühlschrank und die beiden Checks auf dem, was du versuchst als Küchentisch auszugeben. Dazu die Karte eines Bestattungsunternehmens. Du wirst sie brauchen.", schlich seine dunkle, maskuline Stimme bis zu ihr ins Bad. Violet reagierte instinktiv. Sie griff nach ihrem Zahnputzbecher, rannte aus dem Bad und warf ihn Nicolas nach.

Der Plastikbecher flog durch den Flur und prallte gegen seinen breiten Rücken, noch bevor er die Tür erreicht hatte. Er hielt an. Eine bedrohliche Stimmung hing zwischen ihnen und Violet drückte ihre Hand auf ihren nackten Bauch, als er sich langsam zu ihr herumdrehte und seine dunklen Augen sie durch die Finsternis anglühten. Konnten dunkle Augen überhaupt glühen?

„Mit dem zweiten Check wird ihn eine würdige Bestattung neben deiner Mutter zuteil", begann er und machte wieder einige Schritte auf sie zu, ohne den Becher zu seinen Füßen zu betrachten. Er kam näher und obwohl Violet bemüht war ihren trotzigen Gesichtsausdruck beizubehalten, zitterten ihre Lippen.

Nicolas Wut ging ihm selbst voraus, legte sich um ihren halb nackten Körper und drückte ihr die Kehle zu, noch bevor er überhaupt so nahe an sie herangetreten war, um sie zu berühren.

„Das ist alles was du noch für ihn tun kannst, seine Zeit ist abgelaufen. Deine Zeit ist abgelaufen", beschied er gepresst, blieb dann zwei Schritte vor ihr stehen und beugte den Rücken um sie bedrohlich und einschüchternd anzusehen. Sie reichte ihm gerade einmal bis zur Brust und dieser Dreckskerl schaffte es, dass sie sich noch kleiner fühlte. Violet spürte wie eine Ader in ihren Schläfen pulsierte und ihre Knie drohten dem ständig ansteigenden Druck seiner Anwesenheit nachzugeben.

Und während sie kämpfte, blieb er eiskalt. Verärgert, aber kalt.

„Wirf nie wieder irgendetwas nach mir, Violet. Die Konsequenzen würden dir nicht gefallen!" Es war das erste Mal, dass er ihr offen drohte und das erste Mal, dass sie ihn angegriffen hatte. Etwas was sie nicht wiederholen würde, denn es machte ihr eine Scheißangst. Dennoch verschwand der Trotz in ihrem Inneren einfach nicht.

„Er ist mein Vater", presste sie mühsam hervor und beachtete das Zittern in ihrer Stimme nicht. Sein Blick blieb hart und unbeugsam.

Er griff nach ihrem Hals: legte seine langen, kräftigen Finger so schnell um ihre Kehle, dass sie nicht reagieren konnte außer mit einem erschrockenen Keuchen, welches ihr entwich. Nun sah sie es deutlicher, das Glühen in seinen Augen. Das Schwarze darin bewegte sich aufgeregt und lichtete sich, um einen unheiligen grauen Leuchten Platz zu machen, dass sie schockierte und ihr noch mehr Angst einjagte.

„Nie. Wieder." Seine Stimme war ruhig und fast nur ein Flüstern, dennoch eindringlich genug um den Trotz in ein weinerliches, kleines Kind zu verwandeln, das um sein Leben bettelte. Sein Griff war fest, gerade genug um bedrohlich zu wirken und um Spuren zu hinterlassen. Aber es schmerzte nicht wirklich. Oder nicht sehr.

Dann verschwand das Leuchten in seinen Augen und sein Blick streifte ganz kurz ihre leicht geöffneten Lippen. Er war ihr zu nahe, er war zu intensiv und sie hatte eine zu große Angst vor ihm um ihm einen Kuss verwehren zu können, wenn er die wenigen Zentimeter zwischen ihnen überwunden hätte. Doch das tat er nicht, niemals.

„Zwing mich nicht dazu, dir weh tun zu müssen. Es würde mir zu gut gefallen, um in den nächsten hundert Jahren damit aufhören zu können." Dann ließ er sie los, blieb noch einmal kurz stehen, um den Zahnputzbecher aufzuheben und auf eine alte Kommode abzustellen und verschwand aus der Tür.

Und erst jetzt wagte Violet es sich richtig Luft zu holen. Ihr Herz schlug wie ein kleiner Schmetterling in ihrer Brust. In was für ein Schlamassel war sie hier nur hineingeraten?

Beta: Geany Abc 

Violet (Bd 1)Where stories live. Discover now