Der Tag, an dem ich Mr Mortimer traf

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Am nächsten Tag bekam ich eine Mail von meinem Nachhilfelehrer an der Uni. Schnell vergewisserte ich mich, dass niemand im Raum war, ganz besonders nicht Lewis, der es sofort meinem Vater petzen würde. Denn ganz ehrlich, was gab es Peinlicheres als nach wenigen Wochen des Studienbeginns bereits einen Nachhilfelehrer zu benötigen?

Er schrieb, für das nächste Semester würde ich ein neues Buch brauchen, also könnte ich schon einmal damit vorarbeiten und es eben kurz durchlesen. Ein tausend seitiges, furztrockenes Buch über die Geschichte des Gerichtes. Ich stöhnte laut.

„Was ist denn los?", fragte Lewis plötzlich und ich schaltete erschrocken mein Handy aus, bevor er etwas sehen konnte. Mit fragendem, irritiertem Blick sah er mich über den Rand seiner Brille an. Ich lächelte.

„Gar nichts, alles in Ordnung. Du hast mich erschreckt", sagte ich und kam zu ihm, um ihm die Arme um den Hals zu legen.

„Ich brauche nur ein neues Buch für die Uni."

„Ah, deshalb siehst du so begeistert aus", scherzte er und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Nasenspitze. „Ganz in der Nähe gibt es irgendeinen alten Buchladen, vielleicht bekommst du es dort billiger, als wenn du es im Internet bestellst."

„Danke für den Tipp, du bist ein Schatz", sagte ich und er küsste mich, bevor er mich an den Stapel Hausaufgaben erinnerte, den wir beide noch vor uns hatten.

Wenn man sein gesamtes Leben in einer Stadt verbringt, geht man eigentlich davon aus, alle Ecken und Winkel zu kennen. Mein Vater kannte sie ganz bestimmt, würde er sagen. Er war bekanntlich ein Mann ohne Schwächen. Dennoch hatte ich noch nie etwas von der Straße gehört, bevor Lewis und ich zusammen hier eingezogen sind und auch die meisten Geschäfte waren weit entfernt vom Mainstream, was meine Schwester zusätzlich davon abhielt, mich zu besuchen.

Wenige Straßen von unserer neuen Wohnung entfernt, lag ein kleiner Buchladen, eingequetscht zwischen einem vietnamesischen Restaurant und einem Fachgeschäft für Dudelsäcke.

Die stürmischen Winter und nassen Sommer hatten das alte Namensschild verwittern lassen, dennoch sprangen sie mir förmlich ins Auge.

Mortimer's Bücher – neu und gebraucht

Zweifelnd schielte ich durch das Schaufenster, in dem sich die Bücher neben einem schicken, altmodischen Lesesessel stapelten, und dann auf meine Notiz. Eher unwahrscheinlich, dass ein alter Laden wie dieser ein neuerschienenes Fachbuch in Repertoire hätte. Aber was sagte mein Vater immer? Lasse nichts unversucht, um dein Ziel zu erreichen. Selbst dann nicht, wenn das Ziel ein langweiliges, dickes Jura-Buch ist.

Als ich die Tür öffnete schlug mir sofort der Geruch von altem Papier und Druckertinte entgegen. Es war wie in meiner Kindheit.

Direkt gegenüber der Tür stand ein improvisierter Verkaufstresen dem ein Bein fehlte, welches durch einen Stapel Bücher ersetzt worden war. Dahinter stand ein Mann, der augenscheinlich noch älter war als der Laden selbst.

„Ah, ein neues Gesicht", sagte der alte Mann mit einem strahlenden Lächeln und kam hinter dem Verkaufstresen hervorgewackelt, um auf mich zu zukommen. Er streckte mir die faltige Hand entgegen und ich schüttelte sie zögerlich. So bin ich in keinem Buchladen jemals begrüßt worden, und ich wusste nicht wirklich, was ich davon halten sollte.

„Ich bin Mr Mortimer. Willkommen in meinem kleinen Laden. Wie kann ich dir helfen?"

„Oh, Dankeschön", stotterte ich verlegen und ließ meinen Blick durch den verwinkelten Raum schweifen. Die Regale waren voll mit Büchern und kleine, handbeschriebene Schilder, die von der Decke hingen, zeigten mit schnörkeliger Schrift den Weg durch das Labyrinth aus Bücherstapeln und alten Lesesesseln mit Teetischchen. Von Klassikern zu Neuerscheinungen, von gebrauchten Taschenbüchern zu druckfrischen, fast noch warmen Hardcovers.

„Willst du dich erst ein bisschen umsehen?", fragte Mr Mortimer und folgte meinem Blick. Fast hätte ich ja gesagt. Ich wünschte ich hätte es getan. Dieser Laden war die Verkörperung meiner Kindheitsträume. Ein Raum, bis zur Decke vollgestopft mit Geschichten, in dem Tage vergehen könnten, ohne dass man auch nur die kleinste Kleinigkeit davon spürte.

„Nein, ich suche eigentlich etwas bestimmtes", sagte ich stattdessen. Mr Mortimer nickte und musterte mich aufmerksam, wobei er seine Brille weiter in sein faltiges Gesicht schob. Er musste bestimmt schon über siebzig sein.

„Ich bräuchte dieses Buch hier. Haben sie das zufälligerweise da, ich bräuchte es nämlich sehr dringend." Ich reichte ihm meine Notiz, er nahm sie vorsichtig entgegen und warf einen Blick darauf. Dann sah er mich überrascht an.

„Eine Jurastudentin also? Ich muss ehrlich sein, dafür hätte ich dich nicht gehalten", sagte er lachend und machte sich auf, sich einen Weg durch die Geschichten zu bahnen, die sich auf den Tischen türmten. „Aber heute ist dein Glückstag, ich habe gerade eine neue Lieferung Fachliteratur erhalten, da müsste dieses Buch auch dabei sein." Er verschwand hinter einer Ecke und ich hörte nur das Schlurfen seiner Schritte.

„Oh ja, ich wusste es doch!", ertönte sein gedämpfter Ruf und das Schlurfen setzte wieder ein, bevor er zu mir zurückkam, eine dicke, wabbelige Monstrosität unter seinem Arm. Beim Anblick des Buches hätte ich am liebsten schreiend Reiß-aus genommen. „Danke sehr", sagte ich und nahm es entgegen.

„Sieht nach einem Kampf aus", bemerkte Mr Mortimer und schlurfte zur Kasse. Ich folgte ihm mit einem Seufzer. „Sie haben ja keine Ahnung."

„Und du bist dir sicher, dass ich dir nicht noch anders behilflich sein kann?", fragte er und machte eine ausladende Handbewegung, die alle sich im Raum befindenden Universen mit einbezog. „Ich habe sicherlich etwas, das ein so kluges Mädchen wie dich interessieren wird. Tolstoi? Dickens? Oder neueres, Hosseini zum Beispiel?"

Und wieder hätte ich so gern ja gesagt. Wäre so gern geblieben. Doch das Schwergewicht in meinen Armen zog mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Erinnerte mich an den Plan. Für kindische, unnütze Träumereien war kein Platzt, keine Zeit. Erwartungsvoll blickte Mr Mortimer mich an, wartete geduldig mein Zögern ab.

„Tut mir leid, ich muss nach Hause. Kämpfen", sagte ich und deutete auf das Gerichtswesensbuch. Er nickte verständnisvoll und sah mich freundlich und bemitleidend an.

„Dann würde es mich sehr freuen, dich wieder zu sehen, wenn du den Kampf gewonnen hast." Oder wenn ich besiegt wurde. Ich nickte knapp, packte die Monstrosität in meinen Beutel und bahnte mir meinen Weg zum Ausgang. Ich konnte gar nicht schnell genug aus diesem Laden kommen, die Versuchung war einfach zu groß.


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