Tag 17 einer ungewöhnlichen Freundschaft

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„Was sagt eigentlich deine Familie dazu, dass du beinahe jeden Tag hier bist, ohne Geld dafür zu bekommen?"

Ich biss mir auf die Lippe und schaute verlegen zu Boden, bevor ich ihn ansah. Mr Mortimer hob die buschigen Augenbrauen und nickte. „Ach so, ich verstehe."

„Wie lange werden Sie noch für das Buch brauchen?", wechselte ich schnell das Thema und deutete auf das alte Lewis Carroll Buch, das er immer noch reparierte, wenn immer er Zeit dazu hatte. Doch er zuckte nur mit den Achseln.

„Wenn es soweit ist."

„Manchmal machen Sie mich wirklich wahnsinnig, mit Ihrer Art."

„So ist es nun einmal. Es hat keinen Sinn, Pläne für etwas zu machen und sich feste Ziele zu machen, die man am Ende ja doch nicht einhalten kann. Oder möchte." Schwer lag sein Blick auf mir und ich musste mich zwingen, seinen Blick zu erwidern.

„Hören Sie auf damit. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich mein Studium nicht abbrechen werde. Dieses ganze Ding mit der Schriftstellerei hat doch keinen Sinn."

„Es ist schade, dass du das so siehst."

„Wie können sie sich überhaupt so sicher sein, dass ich gut darin bin, Geschichten zu erzählen? Sie haben noch nie eine von mir gehört. Außerdem werden Geschichten heutzutage sowieso immer unwichtiger."

„Da muss ich dir wirklich widersprechen, Moira. Ich habe mir oft genug angehört, wie du über deine Familie gesprochen hast, um genau zu wissen, dass du eine wunderbare Erzählerin bist. Und zum Zweiten: Geschichten sind heute wichtiger, als sie es jemals waren."

Ich sah ihn lange an, ohne dass unser Blickkontakt abbrach. Mr Mortimer war ein spezieller Mann, unglaublich freundlich, aber gleichzeitig unglaublich stur. Und das Problem war, dass ich immer das Gefühl hatte, er hätte Recht. Dass er mich tausendmal besser verstand als irgendjemand aus meiner Familie.

„Geschichten sind überall. Du musst sie nur erkennen. Jedes Buch und jeder Film ist eine Geschichte, jedes Lied und jeder Beitrag im Fernsehen. Selbst die Nachrichten sind eigentlich nur Geschichten, manchmal mit mehr Wahrheitsgehalt, manchmal mit weniger. Alles was man dir erzählt und alles was du anderen erzählst wird doch automatisch zu einer Geschichte. Ob erfunden, oder nicht."

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte und ich glaubte, er wollte auch gar keine Antwort haben. So war er, James Mortimer. Er machte eine kritische Bemerkung zu einem Thema, das mir wichtig war, sah mich lange und eindringlich an und schwieg, um mich darüber nachdenken zu lassen.

Und das tat ich auch. Manchmal länger, als es mir lieb war. An manchen Tagen lag ich ruhelos neben Lewis im Bett und starrte an die Decke, beobachtete die Schatten, die über die Wände tanzten, lautlos, wie Elfen über Moos.

„Mr Mortimer?", rief ich, doch bekam keine Antwort. Der Laden war leer, wie so oft. Buchläden waren nicht mehr beliebt, wie es schien. „Mr Mortimer, können Sie mir sagen, wohin ich dieses Buch stellen soll? Hallo, Sind Sie da?"

Ich tänzelte durch den überfüllten Laden und suchte in jeder Ecke. Und wo fand ich ihn? Zusammengesunken, mit tintenbefleckten Händen und einer karierten Steppdecke über den Schultern in seinem Schreibtischstuhl im Hinterzimmer. Schlafend, den Kopf auf dem Schreibtisch, wo er leise schnarchend auf das Holz sabberte. Mit einem stillen Lächeln nahm ich ihm den Stift aus der Hand und zog die Decke weiter hoch. Da fiel mir das ledergebundene Buch auf, in das er seine Geschichten schrieb. Er musste wieder etwas geschrieben haben. Ich wusste, dass er es wahrscheinlich nicht wollte und auch meine Manieren schrien mich schrill an, ich solle es nicht lesen, bevor er mir freiwillig etwas vorlas, das für meine Ohren bestimmt war. Wie würde es mir gefallen, wenn jemand etwas lesen würde, von dem ich selbst vielleicht noch überhaupt nicht vollständig überzeugt war?

Doch mein Hunger nach neuen Geschichten, der mit jedem Tag in Mr Mortimers Laden größer wurde, überwältigte mich.

Vorsichtig zog ich das Notizbuch vom Tisch und blätterte nach Hinten, zu der letzten Geschichte, die er geschrieben hatte. Ich kauerte mich auf das Sofa, schaltete die kleine Leselampe ein und begann zu lesen.


Mr MortimerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt