Tag 10 einer ungewöhnlichen Freundschaft

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Eigentlich hätte ich an meiner Hausarbeit sitzen müssen. Oder mindestens drei Kapitel in einem meiner dicken Gesetzbücher lesen sollen, oder mich mit Lewis in die Bücherei setzten und lernen müssen oder am besten noch meinen Nachhilfelehrer anrufen müssen, damit er mir endlich weiterhelfen würde. Jede dieser Optionen schien die Vernünftigere zu sein, wenn man meine jetzige Situation genauer betrachtete.

Doch ich war bei Mr Mortimer im Laden, saß eingekuschelt in einem der Sessel und las Oliver Twist, eines meiner alten Lieblingsbücher.

„Ich habe dir auch eine Tasse Tee mitgebracht", sagte Mr Mortimer, der mit einem Tablett in den zittrigen Händen auf mich zu geschlurft kam.

„Dankeschön", sagte ich und stand auf, um ihm zu helfen. Mit einem Seufzer ließ er sich neben mich in den staubigen Sessel fallen. „Wie kommen Sie voran?"

„Langsam", sagte er und nippte an seiner Tasse. „Aber es wird besser. Noch ein paar Tage und unser lieber Carroll ist wieder so gut wie neu."

„Werden sie es dann wieder verkaufen?", fragte ich neugierig und er nickte.

„Wenn überhaupt noch jemand so ein altes Buch kaufen möchte."

Ich schaute ihn lange an, wie er schweigend da saß und seinen kleinen Laden betrachtete, seine grauen Augen leuchteten und nahmen seinem faltigen Gesicht die Müdigkeit, die seine Haltung ausstrahlte.

„Darf ich Sie etwas fragen?" Er schaute zu mir und nickte mit einem sanften Lächeln. „Sind Sie glücklich? Mit ihrem Leben, meine ich? Wollten Sie niemals mehr als das?"

„Mehr als das? Glaubst du denn, das hier ist nicht genug?", fragte er und ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange. Ich wollte nicht, dass er dachte, ich hielte ihn für etwas Schlechteres als mich. Das tat ich nicht, würde ich niemals tun. Doch es war meine Familie, die in mir sprach, vor allem mein Vater.

„Doch, schon. Aber...ich meine, wollten Sie denn nicht erfolgreicher sein? Mehr Geld verdienen oder mehr Anerkennung bekommen?"

„Moira, aus dir spricht das Mädchen, das Jura studiert, ohne Anwältin sein zu wollen. Ich habe von deinem Vater gehört, weißt du? Ich weiß, worauf du hinaus möchtest." Er räusperte sich, dann stand er auf und schlurfte auf den hinteren Teil des Ladens zu. Dann drehte er sich um und bedeutete mir, ihm zu folgen.

„Aber du hast natürlich recht. Wir alle haben unsere Träume, die wir uns selbst erfüllen möchten."

Er öffnete eine schmale Tür, die in einen Hinterraum des Ladens führte und den ich während meiner Besuche immer für einen Lagerraum gehalten hatte. Doch das war er nicht. Darin standen, neben einer Vitrine mit alten Büchern und tausend Topfpflanzen, zwei Schreibtische, auf denen sich Mappen und kleinere Notizbücher stapelten. Mr Mortimer setzte sich in einen roten Stuhl und ich setzte mich ihm gegenüber auf eine alte Couch.

„Moira, ich möchte, dass du mir die nächste Frage ehrlich beantwortest." Ich nickte zögerlich, nicht sicher, worauf ich mich einließ. „Was wolltest du werden, als du noch ein Kind warst? Als du Lewis Carroll gelesen hast?"

Ich schluckte schwer. Wieso wollte er das wissen? Es war doch nicht von Bedeutung, es waren nur Kinderträumereien gewesen. Sie waren, so wie alle Kindheitsträume, zum Scheitern verdammt. Dumm und unrealisierbar.

„Ich wollte Geschichten erzählen", gestand ich und schämte mich dafür. So hatte ich es gelernt. Doch Mr Mortimer lachte nicht darüber.

„Und wieso studierst du dann jetzt Jura?"

„Naja, es ist viel vernünftiger", antwortete ich und rutschte unwohl auf der Couch herum. „Man verdient kein Geld mit Schriftstellerei."

„Hast du es denn schon einmal versucht?", fragte er und ich schüttelte den Kopf. Mein Vater hätte es niemals gebilligt.

„Und Sie?", fragte ich. „Was war ihr Kindheitstraum? Buchhändler?" Er lachte und schüttelte den Kopf.

„Nein, mein Traum war der Gleiche wie deiner. Ist er immer noch. Im weitesten Sinne bin ich Schriftsteller. Oder eher Geschichtenerzähler."

Ich machte große Augen. „Wirklich? Haben Sie etwas veröffentlicht?"

„In meiner Jugend hatte ich etwas für die Zeitung geschrieben, weißt du. Berichte, einzelne Reportagen. Sie druckten auch einige meiner Kurzgeschichten. Aber ein richtiges Buch? Nein, leider nicht. Ich schreibe eigentlich nur für mich selbst und alle, die es gern lesen möchten."

„Darf ich? Können sie mir eine ihrer Geschichten vorlesen?", bat ich. Überrascht sah er mich an, dann breitete sich ein glückliches Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er wühlte eine Weile auf seinem Schreibtisch herum, bis er ein abgegriffenes Notizbuch hervorholte und eine Seite aufschlug.

Dann las er mir seine erste Geschichte vor.


Mr MortimerDove le storie prendono vita. Scoprilo ora