Tag 1 nach Mr Mortimer

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Ich war nie besonders gut darin, traurig zu sein. Auch das war Teil meiner Erziehung gewesen. Deshalb konnte ich erst richtig weinen, als ich wieder in meiner Wohnung war. Ich schloss die Tür, lehnte meine Stirn gegen die kalte Wand und ließ die Tränen kommen, ohne dagegen anzukämpfen. Jemand legte mir eine Hand auf die Schulter und ich zuckte zusammen, drehte mich um. Vor mir stand Lewis und sah mich fragend an.

„Was ist los, Mo?"

„Er ist tot. Er ist tot und ich konnte mich nicht einmal bei ihm entschuldigen", schluchzte ich und Lewis seufzte. Ich wusste nicht wie, aber er wusste genau, um wen es ging. Und, obwohl für ihn Mr Mortimer Schuld am Untergang unserer Beziehung trug, sagte er nichts mehr, sondern war einfach da, um mich zu trösten.

Es wurde schon dunkel, als ich wieder aus dem Bett gekrochen kam. Ich sah schrecklich aus. Meine Augen waren verquollen, meine Nase rot und meine Wimpern verklebt. Und Mr Mortimer war tot.

Die ganze Nacht saß ich aufrecht im Bett, unfähig zu schlafen. Und am nächsten Morgen stand Lewis auf und ging zur Uni, was mich unglaublich wütend machte. Wie konnte er nur? Wie konnte er einfach weiter machen wie zuvor, obwohl Mr Mortimer nicht mehr in seinem Laden saß? Ich konnte nicht verstehen, wie die Welt sich einfach weiterdrehen konnte, wenn ich mich so taub fühlte.

Als Lewis nach der Uni zurück kam und ich immer noch im Bett saß, ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben, wusste er sich auch nicht mehr zu helfen. Er rief meine Schwester an, die dann eine Stunde später vor der Tür stand.

„Moira, du musst etwas essen. Du kannst doch nicht den ganzen Tag nur an die Wand starren", versuchte sie, mich zu trösten.

„Es fühlt sich nicht richtig an", flüsterte ich und sah sie an. Ihre gerunzelte Stirn sah etwas mitleidender aus und ihr Blick weit weniger skeptisch.

„Es fühlt sich niemals richtig an, wenn jemand stirb, den man gern hat", sagte Zoe und strich mir sanft über die platten Haare. „Aber es wird nicht besser, wenn du nur hier herumsitzt."

„Das ist meine Strafe. Ich habe schreckliche Dinge zu ihm gesagt und jetzt ist er gestorben, um mich zu bestrafen. Ich hätte früher kommen sollen. Ich hätte mich sofort bei ihm entschuldigen sollen. Ich hätte nicht auf Papa hören sollen."

„Na, na. Sei nicht so hart zu dir selbst", sagte sie und wischte die Tränen weg, die wieder unaufhaltsam aus meinen Augen rannten. „Es ist genauso wenig deine Schuld wie es Papas Schuld ist, hörst du? Solche Dinge geschehen einfach. Es ist traurig und ungerecht, aber so ist es nun mal."

„Das Leben ist traurig", flüsterte ich und mein Herz zog sich schmerzlich zusammen.

Zum Mittagessen zerrte Zoe mich buchstäblich aus dem Bett und platzierte mich neben Lewis an unserem kleinen Esstisch. Ich blickte auf die dampfende Suppe, die sie gemacht hatte und hatte das Bedürfnis hineinzuspucken. Aber meiner Schwester zuliebe nahm ich den Löffel und aß, wenn auch nicht viel.

„Moira, ich habe nachgedacht", sagte Lewis dann und ich sah ihn an. Er wich meinem Blick aus. „Ich glaube nicht, dass das mit uns noch mal etwas wird. Und das ist in Ordnung."

„Lewis, können wir darüber nicht ein anderes Mal reden?", fragte ich mit rauer Stimme, doch er ignorierte meinen Einwand.

„Ich weiß, du und dieser alte Mann-"

„Mr Mortimer", unterbrach ich ihn.

„Ja, dieser Mr Mortimer und du ihr standet euch sehr nahe und du bist jetzt traurig, weil er gestorben ist und weil du diesen Inder nicht mehr sehen kannst, aber ich kann nicht immer auf dich Rücksicht nehmen."

„Hast du das denn jemals getan?", fragte ich und legte den Löffel weg. „Eigentlich hast du dich doch nur für dein Studium interessiert. Und ich wurde dir irgendwann zu anstrengend. Und ich habe mich dir auch nicht anvertraut. Aber wärst du nicht direkt zu meinem Vater gerannt und hättest ihm alles erzählt? So wie du es getan hast, als du das mit dem Schreiben herausgefunden hattest?"

„Moira, ich glaube wirklich, ihr solltet jetzt nicht streiten. Ihr könnt doch morgen darüber sprechen", schaltete Zoe sich ein, doch Lewis' verkniffener Mund sagte mir schon alles, was ich wissen wollte.

„Tut mir leid, Mo", sagte er dann. „Aber ich glaube es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen."

Ich nickte. Es hätte mir vielleicht wehgetan, so von Lewis abgeschoben zu werden, aber dazu war ich im Moment einfach zu traurig.

„Du musst nicht hier ausziehen", entgegnete ich dann, was mich selbst ein bisschen überraschte. „ich werde zu Zoe ziehen."

Jetzt war ihr kritischer Blick wieder auf mich gerichtet, doch sie sagte zum Glück nichts dagegen. Ich wusste, dass sie eigentlich keinen Platz in ihrer Wohnung hatte, aber woanders wollte ich im Moment wirklich nicht hin. Erst recht nicht zu meinen Eltern.

Ich war erst eine Stunde bei Zoe und hatte gerade meine Sachen ausgepackt, als auch schon meine Eltern vor der Tür standen. Mein Vater hatte die Hemdärmel hochgekrempelt und sah verärgert und erschöpft zugleich aus, meine Mutter war gerade von der Arbeit gekommen und trug noch ihre hochhackigen Schuhe.

„Was macht ihr denn hier?", fragte ich überrascht und Zoe steckte neugierig ihren Kopf hinter der Tür hervor.

„Lewis hat mich angerufen und mir gesagt, dass du ausgezogen bist und er die Wohnung ab jetzt bezahlt."

„Diese kleine Petze", murmelte meine Schwester missbilligend und zum ersten Mal verstand ich ihre Abneigung gegen ihn.

„Wir wollen nur sichergehen, das alles in Ordnung ist", sagte meine Mutter und nahm vorsichtig meine Hände in ihre, doch ich zog sie weg.

„Du meinst, ihr wollt sehen, ob ich noch mache, was ich machen soll", entgegnete ich und den unangenehm verzerrten Gesichtern meiner Eltern nach zu urteilen hatte ich damit ins Schwarze getroffen.

„Nach allem was in den letzten Monaten geschehen ist, sind wir nur besorgt, dass es einen Rückfall geben könnte", sagte mein Vater dann, sichtlich darum bemüht, ruhig zu bleiben.

„Einen Rückfall? Sie ist doch nicht Drogenabhängig", mischte Zoe sich mit ihrem allgegenwärtig kritischem Blick ein.

„Schatz", versuchte meine Mutter die Situation zu entschärfen, was ihr kläglich misslang. „Wir wollen nur nicht, dass du wieder mit dem Buchhändler herumhängst und dein Studium vernachlässigst."

„Da macht euch mal keine Sorgen", sagte ich und ignorierte das Stechen in meiner Brust. „Er ist tot, er wird mich also nicht mehr ablenken können."

„Oh Darling, das tut mir so leid!" Meine Mutter wollte mich in den Arm nehmen, doch ich schob sie weg.

„Lass das! Du hast ihn doch gar nicht gekannt. Keiner von euch kannte ihn! Papa findet doch ohnehin alle Künstler verabscheuungswürdig!"

„Moira", sagte Zoe besänftigend und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Es stimmt schon, ich habe nicht viel von diesem Mann gehalten", gab mein Vater zu. „Aber das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Wichtig ist, dass Moira sich wieder fängt und ihr Studium erfolgreich beendet."

„Nein", widersprach ich meinem Vater, gefühlt zum ersten Mal in meinem Leben. „Ich werde keine Anwältin werden. Das bin ich einfach nicht."

Ich konnte schon sehen, dass der Kragen meines Vaters bei diesen Worten kurz vorm Platzen war, doch diesmal war es mir herzlich egal. Karan hatte recht gehabt. Wenn ich so weitermachte, würde ich alles verlieren, ohne es überhaupt zu merken

„Ein Freund von mir ist gestorben, Papa. Kannst du nicht verstehen, dass es mir ohnehin schon schlecht genug geht? Deine Vorträge werden bestimmt warten können."


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