64. Ängste und Sorgen

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"Sie werden ausflippen.", prophezeite ich.
"Sind sie das nicht schon?", erwiderte Jaron mit einem Seitenblick, bevor er wieder auf die Strasse vor sich blickte.
Ein spöttischer Laut entfloh mir,"Das war noch gar nichts."
Man hatte meine Eltern noch im Krankenhaus informiert, auch wenn es mir lieber gewesen wäre, man hätte damit gewartet.
Es war alles halb so schlimm. Jedenfalls konnte ich laut Arzt schon wieder nach Hause. Jedoch mit der Anordnung, die nächsten Tage alles etwas langsamer anzugehen.
Doch da musste er sich keine Sorgen machen. Wenn mich ein Wort in meinem jetzigen Zustand beschreiben würde, wäre es genau das; langsam.
Jede Bewegung schmerzte wie ein lästiger Muskelkater der schlimmen Sorte und mein Kopf mochte ruckartige Bewegungen überhaupt nicht.
Er hatte am meisten abbekommen.
Nun hatte ich einen hübschen weissen Verbandturban als Accessoire.
Dazu an Händen sowie Hals blaue und lilane Flecken.
Alles in allem hatte Michael zahlreiche Treffer gelandet.
Ich aber auch. Wo immer Michael jetzt gerade auch sein mochte, ich wusste, auch er musste seine Wunden lecken und ich hoffte inständig, nicht zu kurz.
Ich ballte die Hände zu Fäusten und dachte wieder daran, wie er mich da an die Wand gedrückt und mir die Luft abgeschnürt hatte.
Diesen ekelhaften Blick und diese-...
Eine Hand umschloss meine Faust und öffnete sie sanft wieder, ich umschloss die Finger, die mir angeboten wurden und entspannte mich automatisch wieder ein Stück.
Dankbar schenkte ich ihm einen Blick. Obwohl ich eine unglaubliche Wut in mir hatte, war ich auch Erschöpft. Erschöpft von allem.
Im Krankenhaus war danach die Hölle los. Der Sicherheitsdienst war maßlos überfordert und mehr als froh darüber gewesen, als die Polizei eingetroffen war und die Angelegenheit übernommen haben.
Dad hatte sofort seine Leute geschickt, wobei er selbst auch kommen wollte.
Jedoch hatte ich ihm das ausgeredet, sobald klar war, dass ich nicht dort bleiben musste.
Jaron wich mir die ganze Zeit über nicht von der Seite, genauso wenig wie Ben.
Beide aber waren auffällig still gewesen. Der wohl meist gesagte Satz, den sie in den letzten Stunden benutzt hatten, war, ob es mir gut ginge oder ob ich noch was bräuchte.
Auch jetzt war Jaron still und ich würde zu gern wissen was ihn im vorging. Ben hatte sich von uns verabschiedet, versprach aber morgen vorbei zu kommen.
Er hatte immer noch ein schlechtes Gewissen. Aber er trug keine Schuld.
Und Jaron genauso wenig.
Diese Tatsache hatte ich die letzten Stunden immer wieder wiederholt.
Jesus, sie konnten ja schlecht mit mir auf Toilette!
"Sie warten schon.", ich öffnete die Augen, die ich irgendwann geschlossen hatte, und sah unser Haus vor uns.
Auf der Veranda standen bereits meine Eltern und kamen uns nun entgegen, während Jaron parkte.
Bevor der Motor überhaupt verstummt war, wurde meine Türe schon aufgerissen und zwei besorgte Gesichter schoben sich in mein Blickfeld.
Dad fluchte leise und Mum schaute nur ganz betroffen, den Tränen nah.
"Was hat er nur mit dir gemacht?", wisperte sie und strich mir vorsichtig über meine angeschwollene Wange.
"Es ist..."
"Sag jetzt ja nicht es ist nur halb so schlimm!", unterbrach mich Dad fahrig und ich hielt augenblicklich den Mund.
Es war besser, wenn ich jetzt gar nichts mehr sagte und sie das erst mal verdauen lasse.
Mit Hilfe von Dad, schleppte ich mich ins Haus, gefolgt von Mum und Jaron. Letzterer hatte noch keinen Mucks von sich gegeben.
"Meine Leute haben keinen Anhaltspunkt wie Michael entkommen konnte. Ich vermute aber stark, dass er es nicht ohne Hilfe geschafft hat.", Dad stappelte die Kissen auf der Couch und breitete mir eine Decke aus, ehe ich mich langsam in das weiche Polster sinken liess, dankbar endlich etwas bequemer liegen zu können.
Mum kam zu mir mit einer Packung gefrorener Erbsen, die ich mir sofort an die pochende Wange legte.
"Du denkst also wirklich, dass er einen Komplizen hat?"
Dad sagte zwar nichts, doch er liess keinen Zweifel daran, dass er davon überzeugt war.
Ich schluckte. Wer machte da denn da freiwillig mit?
Das war doch einfach nur krank!
Bis dato war mir der Gedanke über einen Komplizen nur als eine Möglichkeit vorgekommen, doch wenn ich genauer überlegte, machte es nur mehr als Sinn.
"Wie konnte das überhaupt soweit kommen?", fragte Dad, ganz der Polizist.
"Ich war auf Toilette, als die Tür aufging. Ich dachte einfach eine weitere Person müsste mal.
Als ich aus der Kabine trat, wurde ich dann aber mit einem Besen niedergeschlagen und anschliessend an die Wand gedrückt.
Ich hab mich gewehrt und so führte eins zum anderen."
"Hat er was gesagt?"
"Nichts ausschlaggebendes.
Die üblichen Sprüche.", tat ich es mit einem Schulterzucken ab, hoffte dass man meine plötzliche Gänsehaut nicht bemerkte.
Wir schwiegen alle eine Weile lang, mit den eigenen Gedanken beschäftigt.
Jaron hatte den Raum nicht mal richtig betreten. Er lehnte im Türrahmen und starrte vor sich hin.
Mum hatte sich neben mich gesetzt und meine Hand genommen, was eher zu ihrer eigenen Beruhigung, als zu meiner diente. Dad saß, wie üblich, in seinem grossen Sessel uns gegenüber und ich konnte förmlich mitverfolgen, wie er versuchte die ihm gegeben Informationen zu verknüpfen.
Ich drückte die Erbsen noch etwas fester an die Wange und liess meinen Blick planlos durch den Raum gleiten.
Bis er an zwei Koffern stehen blieb.
"Wollt ihr verreisen?", fragte ich und deutete in Richtung der Gepäckstücke.
Mum zuckte kaum merklich zusammen und suchte den Blick meines Vaters, welcher diesen kurz erwiderte, bis ein entschlossener Ausdruck in seine Augen trat.
"Das ist nichts."
"Mum, was sollen die Koffer?", wandte ich mich mit Nachdruck an sie, mit dem Wissen, dass sie eher einknicken würde, als Dad.
Sie wich meinem Blick aus, fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut.
"Ein Kollege aus Vermont hat angerufen.", sprach dann Dad, als er merkte, dass ich mich noch nicht zufrieden gab.
"Und weshalb?", hackte ich ungeduldig nach, als er nicht gleich weitersprach, etwas genervt von dieser Geheimniskrämerei.
Dad seufzte," Ich hatte vor etwas mehr als 3 Jahren eine Reihe von Fällen mit identischen Mustern.
Gerade als wir dem Killer auf der Spur waren, hörten die Morde auf. Bis vor zwei Wochen. Anscheinend treibt er nun in Vermont sein Unwesen."
"Und jetzt will die Polizei dort deine Hilfe?"
Dad nickte,"Insgesamt hat er schon über 7 Menschen ermordet, es scheint nicht so, als würde er damit aufhören."
"Na was machst du dann noch hier?"
"Komm mir nicht so, Clea. Ich werde ganz sicher nicht gehen.
Ich hatte schon vorher bedenken und nach den heutigen Ereignissen werde ich den Teufel tun und hier bleiben!"
Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, es würde mir nichts ausmachen, wenn er nach Vermont ginge. Ich bin ehrlich, das tat es.
Allein bei dem Gedanken, dass ich hier allein zurückblieb, mit einem Verrückten im Nacken, liess mir vor Angst den Hals zu schnüren.
Doch wollte ich es verantworten, dass vielleicht weitere Menschen starben?
Dad konnte zwar keine Wunder vollbringen und den Killer im Handumdrehen schnappen, aber er war gut in seinem Job. Sehr gut.
Und vor allem Mordfälle waren genau seine Sache. Wir wussten alle im Raum, dass es ihn wurmte, den Killer nicht schon damals geschnappt zu haben, sein Kodex verlangte geradezu danach, das jetzt zu Ende zu bringen. Ein für alle Mal.
Schlussendlich konnte er hier nicht mehr tun als alle anderen.
"Dad, die brauchen dich, sonst würden sie dich ja kaum darum bitten. Das ist dein Job. Ich komm schon klar. So nah wie heute wird er mir nicht noch einmal kommen."
Dumpfes Pochen an meinen Schläfen, sowie am Hinterkopf, liess mich kurz die Augen schliessen.
Die Schmerztablette liess langsam nach. Mum hielt mir sofort ein Glas Wasser unter die Nase, an welchem ich vorsichtig nippte, mein Hals war zu wund für grosse Schlucke.
Dad schüttelte derweil entschieden den Kopf,"Familie geht vor."
"Die Opfer haben auch Familie.", hielt ich dagegen. Gewillt meine Angst nicht auf seine Arbeit auszuwirken zu lassen.
Dad, sowie Mum, pressten die Lippen zusammen und sagten nichts.
Ich wusste das waren unfaire Karten, die ich da ausspielte, aber wenn man vielleicht schon verhindern konnte, dass noch mehr sterben, sollte man doch alles dafür tun, nicht?
"Ich könnte hier übernachten, so lange sie weg sind, oder sie kann in meine Wohnung. So wäre sie wenigstens nie alleine.", brachte sich Jaron zum ersten Mal ein.
Ich hatte schon fast vergessen, dass er hier war und bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen.
Dad war anzusehen, dass er das Angebot am liebsten sofort ausgeschlagen hätte.
Alleine bei dem Wort übernachten wurde er bleicher im Gesicht, was mich, trotz allem, schmunzeln liess.
Das wird sich wohl nie ändern.
Doch nach ein paar Sekunden der Gedenkzeit, nickte er dann widerwillig.
"Das wäre eine Möglichkeit. Ausserdem werde ich einen Streifenwagen vor dem Haus positionieren lassen und das FBI wird auch seinen Teil dazu beitragen. Jedenfalls musst du dich für diese Zeit damit abfinden, dass du jetzt doch wieder unter Beobachtung stehst."
Letzteres galt mir und ich nickte,"Damit hab ich kein Problem, solange es diskret abläuft.
Keine Uniformierten mehr rechts und links. In der Schule habe ich ja Jaron."
"Damit können wir arbeiten.
Es wird wahrscheinlich gar nicht so lange dauern, länger als eine Woche kann ich gar nicht wegbleiben.
Mein Büro hier benötigt mich genauso."
"Ich bin nicht glücklich damit aber ich sehe auch keine andere Möglichkeit. Ausserdem sind wir jederzeit in nur wenigen Stunden wieder hier.", gab Mum sich seufzend geschlagen.
"Es wär mir aber lieber, wenn ihr hierbleiben würdet. In deinem Viertel ist die Kriminalität zu hoch. So ist es um einiges schwerer, den Überblick zu behalten."
"Damit habe ich kein Problem.", antwortete Jaron meinem Vater.

Eine halbe Stunde später stand ich, gestützt von Jaron, auf unserer Veranda und wank meinen Eltern hinterher, als sie mit einem Taxi davon fuhren.
Meine Augen brannten, doch ich weinte nicht. Auch wenn es mir schwer fiel, wusste ich, dass es die richtige Entscheidung war.
Hier konnten sie nichts tun, was nicht auch andere tun konnten.
Mein Blick wanderte zu dem Streifenwagen in unserer Einfahrt. Im und rum um das Haus waren alle erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden und gaben mir wenigstens da das Gefühl etwas Ruhe zu finden, zumal jetzt auch kein Spannen im Garten mehr möglich war.
Wenn der Polizeiwagen Michael nicht abschreckte, dann spätestens der schrille Alarm, wenn er auch nur einen Fuss auf das Grundstück setzte.
Mein pochender Kopf aber ermahnte mich, dass Michael unberechenbar war.
Der heutige Tag hatte gezeigt, wenn er etwas wollte, wird er es sich holen, ohne Rücksicht auf Verluste.

Und genau diese unerwartete Rücksichtslosigkeit machte mir Sorgen.

Beyond all reason - Gegen jede VernunftWhere stories live. Discover now