Prolog

308 37 17
                                    

Das Glas fuhr über ihre bleiche Haut. Nach und nach traten dunkelrote Tropfen hervor. Doch der wahre Schmerz kam durch den Verrat und nicht von der Glasscherbe. Zu ihren Füßen lagen hunderte von ihnen in einem Meer aus eiskaltem Wasser und goldenem Staub. Jede Scherbe war eine Erinnerung an den Betrug und die Lügen, aus denen ihre perfekte Welt bestanden hatte. Ein Riss bahnte sich durch ihr Gesicht und ihre Welt. Die ersten Tropfen Blut regneten auf das Glas, welches am Boden lag und zogen sich wie dunkelrote Tinte auf feuchtem Pergament durch die Pfützen. Eine Träne kullerte ihre Wange hinab, als sie fassungslos auf ihr Spiegelbild in den Augen ihres Gegenübers blickte. Die Augen, in die sie sich einmal verliebt hatte. Das einst so fremde und nun so vertraute Violett wirkte nur noch wie kaltes, hartes Eis. Die Wirkung, die es einmal auf sie hatte, war verflogen. Jede Liebe in ihnen war Hass und Abscheu gewichen, die sie nicht verstand. Vor wenigen Momenten hatte sie noch eine perfekte Welt in den Händen gehalten. Von dieser war nichts als ein Scherbenhaufen auf dem elfenbeinfarbenen Marmorboden übrig. Die Kälte des Marmors und ein paar Glassplitter rammten sich in ihre nackten Füße. Ihr zerschnittenes Gesicht fühlte sich taub an und sie hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Als sie ihren Kopf leicht neigte, um sich von den violetten Augen abzuwenden und aus dem Fenster zu schauen, fixierte sie ihren Blick auf ein silbriges Schimmern inmitten von nachtschwarzen Felsen.

„Hältst du dich immer noch für perfekt?"

Wut kochte in ihrem kleinen, zierlichen Körper auf. Er verstand es nicht. Er verstand sie nicht. Doch er würde es verstehen. Alle würden es verstehen. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Ihr war furchtbar schwindelig durch den Geruch von Blut und dem Verlust ihrer Kräfte. „Das wird dir noch leidtun." Ihre Stimme war kaum mehr als ein schmerzerfülltes, zittriges Flüstern. Er hatte ihre perfekte Welt zerbrochen und auch ihr Innerstes. Wut und Schmerz mischten sich mit dem Geschmack von dickem Blut und salzigen Tränen auf ihren Lippen. Das Glas und die Kälte stachen auf sie ein, ebenso wie die Blicke ihres Geliebten, die sie selbst mit geschlossenen Augen auf ihrer Haut spürte. Mit großer Anstrengung hob sie ihre Arme.

„Es. Wird. Dir. Leid. Tun."

Ein silbriges Schimmern zog sich über ihre Haut. Die blutige Glasscherbe fiel aus der Hand des Verräters und ihr schrilles Klirren beim Aufkommen auf dem Marmorboden hallte von den Wänden wieder. Er ging ein paar holprige Schritte zurück. Zitternd und schwer atmend. Sein Blick war flehend und entschuldigend und für einen Moment flammten alte Erinnerungen an gemeinsame Zeiten auf. Doch es war zu spät. Die Erde begann unter ihren Füßen zu beben und die Scherben klirrten und tanzten über den Boden. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, während der Zerstörer ihrer perfekten Welt auf die Knie sank und nichts als ein erbärmliches Röcheln von sich gab, bevor alles um sie herum in Dunkelheit versank.

Lumen Lunae - Ein Tropfen Mondlicht [Leseprobe]Where stories live. Discover now