Kapitel 3: Süß und berauschend

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Unsere Gläser klirrten beim Anstoßen und ich bemühte mich, nichts oder besser gesagt nicht viel zu verschütten. Was beinahe unmöglich war, da der Waldweg sich als unausgesprochen holprig herausstellte. Trotzdem lachten wir zusammen und ich ließ den Rest Alkohol, der nicht auf dem Boden der Kutsche gelandet war, prickelnd meinen Hals hinunterlaufen. Sofort wurde alles in mir warm, als hätte ich ein Streichholz verschluckt. Ich lachte noch mehr. Faye hatte die Flasche Sekt unter ihrem Kleid aus der Küche geschmuggelt. Sie meinte, einen solch edlen und teuren Tropfen sollte man nicht zurücklassen. Eigentlich waren Faye und ich mit unseren sechzehn Jahren noch zu jung, um diese Menge an Alkohol zu trinken. Normalerweise durften wir auf Veranstaltungen lediglich ein Glas Punsch zu uns nehmen. Doch Faye fand, dass der Anlass passend war.

„Auf den Neuanfang. Auf Mari. Auf Avery, die bereits ihr Glas geleert hat, ohne auf den Trinkspruch zu warten."

Beinahe hätte ich bei Henrys Worten die letzten Tropfen prustend ausgespuckt, doch ich schaffte gerade noch, sie hinunterzuschlucken. Ein bisschen Sekt lief aus meinem Mund und tropfte auf mein hellgrünes Kleid, das laut meiner Freundin perfekt zu meinen grünen Augen passte. Doch das machte mir in diesem Moment nichts aus.

„Es tut mir leid!", kicherte ich.

Faye griff nach der Flasche und schenkte erneut ein.

„Das müssen wir aber noch üben, Avery. Gleich nochmal."

Wieder stießen wir an. Dieses Mal wartete ich den Trinkspruch ab.

„Auf uns und den Neuanfang. Auf meine Cousine Faye und meine geliebte Avery."

Verlegen trank ich mein Glas aus und in dem Moment, in welchem meine Lippen vom Glas wichen, schmeckte ich etwas ähnlich Süßes und Berauschendes. Es waren Henrys Lippen. Faye jubelte und klatschte, so gut es mit einer freien Hand ging. Doch ich erstarrte. Ich wusste nicht, wie man küsste und ich wusste nicht, ob ich Henry schon küssen wollte. Es ging alles so furchtbar schnell. Unbeholfen küsste ich zurück, wie ich es mir vorstellte, dass es richtig war. Doch der berauschende Moment, der rasende Puls und der unendlich laute Herzschlag hielten nicht lange an.

„Tut mir leid", murmelte Henry und wandte sich ab.

Faye schaute mit weit geöffnetem Mund zwischen mir und ihm hin und her. Dann grinste sie.

„Ist alles in Ordnung mit euch? Soll ich in eine andere Kutsche umsteigen?"

Bevor ich etwas sagen konnte, antwortete Henry.

„Alles ist gut, Faye. Ich denke, wir sollten schlafen. Wir alle."

In seiner Stimme lagen Enttäuschung und Verlegenheit. Und eine Bestimmtheit, die mir bisher unbekannt war. Henry war niemand, der schnell laut oder wütend wurde. Er war ruhig, lieb und geduldig. Ich fühlte mich schrecklich. Hatte ich so schlecht geküsst? War er wegen Faye verlegen? Hatte er meine Unsicherheit falsch verstanden? Oder war es nur der Alkohol? Mir schwirrte der Kopf.

„Henry hat Recht. Wir sollten schlafen."

Ohne ein weiteres Wort holte ich mein geliebtes Kissen aus der Tasche und legte es an die Wand der Kutsche, um meinen Kopf daran zu lehnen und mich anzukuscheln. Abgewandt von Henry. Faye erwiderte nichts und pustete die Kerze in dem großen Glas an der Decke aus, die bis zu diesem Zeitpunkt die Kutsche mit warmen Licht gefüllt hatte.

In der Dunkelheit der Kutsche schlüpfte ich aus meinem Sommerkleid und zog etwas Älteres an, in dem ich mich besser bewegen konnte und zog die Schuhe aus. Meine Gedanken kreisten eine halbe Ewigkeit um diesen Kuss, bis ich irgendwann doch einschlief, zu der Melodie von Henrys regelmäßigen Atemzügen.

Lumen Lunae - Ein Tropfen Mondlicht [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt