5| Lynn

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Die Dunkelheit scheint mich zu verschlucken, als ich mich Schritt für Schritt in die Richtung, in der ich das Mädchen vermute, herantaste. Die Stimmen der anderen dringen nur noch dumpf zu mir durch. Sie klingen aufgeregt.

Nicht umdrehen.

Unsicher strecke ich eine Hand aus, die ins Nichts greift.
Wo zum Teufel ist die Wand hin? Sie war doch gerade eben noch neben mir!

Langsam aber sicher spüre ich, wie mein Puls sich beschleunigt.
Ich habe die Orientierung verloren.

Genervt versuche ich meine Atmung zu beruhigen, da es mir reichlich wenig bringt, mich jetzt aufzuregen. Wie zu erwarten war, funktioniert das nicht, sondern sorgt stattdessen dafür, dass die Schnappatmung noch viel schlimmer wird. Dieser dunkle Raum erinnert mich an den kleinen Aufzug, der uns jedes Mal ruckelnd in den zwölften Stock unseres Wohnhauses bringt. Jedes Mal, bis auf dieses eine furchtbare Mal, wo ich stecken geblieben, die Lichter erloschen sind und ich drei Stunden warten musste, bis jemand auf mich aufmerksam wurde. Nie zuvor hatte ich solche Angst gehabt. Außer jetzt: Ich fühle mich, als wäre ich wieder das neunjährige Mädchen von damals. Das gleiche Gefühl der Panik überkommt mich, wird durch meine Adern gepumpt.

Unruhig blicke ich hin und her, versuche, Einbildung von Realität zu unterscheiden. Ich meine, Schritte zu hören, Schatten zu sehen, doch das ist alles nicht echt, oder?
Ich entschließe mich, weiterzugehen, bevor meine Angst wieder überwiegt.
Meine Güte, das ist doch nur eine Halle und kein verdammter Aufzug oder so.
Wie um zu prüfen, ob sich nicht doch glatte Metallwände mit kaputten Knöpfen um mich herum befinden, strecke ich ruckartig die Arme nach vorne.
Ein spitzer Aufschrei verlässt meine Lippen, als meine Hände plötzlich etwas Weiches berühren. Reflexartig kralle ich mich daran fest, spüre leicht rauen Stoff zwischen meinen Fingern.
Panisch taste ich etwas weiter, spüre schmale, lange Finger und ein Armband mit Anhänger.
"Elody?", frage ich verwirrt und erinnere mich daran, wie das Mädchen kurz bevor ich die Halle durchquerte an genauso einem Armband herumspielte.
Ihr schemenhafter Umriss scheint zu nicken, auch wenn ich es nicht mit Sicherheit sagen kann.
"Was machst du hier?", möchte ich wissen.
"Könnte ich dich auch fragen", murmelt sie und läuft so dicht an mir vorbei, dass ich einen leichten Luftzug spüren kann. Seufzend folge ich ihr.

Verdammt, jetzt geht ein Rückzug noch weniger.

Stolpernd laufe ich Elody hinterher, begleitet vom Stimmengewirr der Anderen, was langsam immer leiser wird und schon bald nur noch wie ein unheimliches Raunen klingt. Warum müssen diese Steinwände denn auch dafür sorgen, dass alles widerhallt und dadurch seltsam blechern klingt?
Im nächsten Moment ist Elody hinter einem Schutthaufen verschwunden. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt.

Ein anderes Wort scheint heute Abend keinen Platz in meinem Kopf zu finden.
Mit großem Widerwillen biege auch ich um die Ecke, wobei mein Arm leicht am rauen Gestein entlangschrubbt.

Plötzlich bin ich dem rothaarigen Mädchen so nahe, dass ich gar nicht anders kann, als ihre blasse Haut mit den unzähligen Sommersprossen, ihre feinen Gesichtszüge und ihre etwas spitze Nase genauer zu betrachten. Ihre eisblauen Augen scheinen Funken zu sprühen, während sie Elody wütend anblickt. "Was meinst du mit: Du hättest im Dunklen nie diese Kästchen finden können?" Ein paar ihrer rostroten Locken, die sich aus dem unordentlichen Knoten in ihrem Nacken gelöst haben, wippen bei jedem Wort mit. Demonstrativ streckt sie ein Kästchen in die Höhe, wobei ihr Ellenbogen nur knapp an meinem Gesicht vorbeirauscht. Begleitet von ihren wütenden Worten trete ich einen weiteren Schritt zurück. "Was glaubst du eigentlich, wer ich bin? Würdest du mir wirklich zutrauen, so eine Mail zu verschicken?"
Elody hebt zwar beschwichtigend die Hände und murmelt ein leises "So war das doch gar nicht gemeint", scheint jedoch trotzdem nicht sonderlich überzeugt. Ihr Misstrauen überträgt sich auf mich. Irgendetwas an diesem Mädchen ist seltsam, ja fast schon beunruhigend. Doch immer, wenn ich in meinem Kopf nach der Antwort, warum dies so ist, suche, scheint sie mir zu entgleiten und lässt nur ein ungutes Gefühl zurück.

Spiel oder StirbWhere stories live. Discover now