12/ Lynn

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Schnell durchquere ich den Gang, schiebe andere Schüler zur Seite, wenn sie mir nicht schnell genug ausweichen. Verdammt, das ist ein echt schlechter Zeitpunkt.
Zwar habe ich Schulschluss, jedoch sollte ich Nelly ursprünglich um halb fünf abholen. Schnell krame ich mein Handy hervor und blicke auf die Uhr. Mir bleiben noch zwei Stunden.

Hastig drücke ich die Tür auf, trete ins Freie und seufze. Überall strömen Schüler über den Hof, albern herum und freuen sich einfach auf ihren freien Nachmittag. Was zum Teufel habe ich getan, dass ich dieses Spiel verdient habe?
Na gut, auf die Schnelle würden mir schon ein paar Sachen einfallen, schließlich bin ich keine Heilige, aber das gibt doch trotzdem keinen Sinn. Genau wie das ganze Konzept des Spiels. Ein paar einfache Aufgaben, die fast an eine Schnitzeljagd erinnern -finde das, gehe dorthin, klettere da drauf- bringen doch niemandem etwas.

So in meinen Gedanken versunken habe ich kaum bemerkt, dass ich das Schulgelände längst hinter mir gelassen habe und auf den Bahnhof zusteuere. Ich hoffe, mein Geld reicht.
Ich habe heute morgen nur gerade so viel eingesteckt, wie ich zur Schule und wieder zurück zu unserer kleinen Wohnung benötige.
Aber was würde es jetzt noch für einen Unterschied machen, schwarzzufahren? Ich stecke so oder so schon in verdammt großen Schwierigkeiten.
Trotzdem gehe ich auf einen der Automaten zu, ziehe brav eine Karte und stecke das Wechselgeld tief in meine Taschen. Da unser Treffpunkt neben dem Tarne, der durch unsere Stadt fließt, liegt, könnte dieses -wenn ich Glück habe- sogar fast bis nach Hause reichen.
Plötzlich höre ich ein Brummen. Erschrocken wandert mein Blick zur Uhr, die ich kurz nach der Französischstunde widerwillig um meinen Arm gelegt habe. 

Bin ich schon wieder zu spät und verpasse ein Level?
Nein, immer noch die gleiche Nachricht.

Erleichtert krame ich mein Handy hervor und starre das Display an, welches wütend brummt, weil ich den eingehenden Anruf nicht annehme. Leon. Mist, den hatte ich ja ganz vergessen.
Mit zittrigen Fingern nehme ich an und werde gleich von meinem genervten besten Freund begrüßt. "Lynn! Wo bleibst du, verdammt? Wir hatten schon vor 15 Minuten aus und du bist nie zu spät, wenn du Französisch in der letzten Stunde hast. Wo steckst du?" Nervös räuspere ich mich. "Ich muss ein Referat vorbereiten. Tut mir leid, ich hatte das total vergessen. Aber wir haben nur noch ein paar Tage Zeit und die anderen in meiner Gruppe haben nur heute gekonnt. Ich mach das wieder gut, wie wäre es mit einem..?" Mein "Eis" wird von einem genervten Aufseufzen übertönt. "Na gut. Dieses Mal kommst du noch davon. Aber du bist auf meinem Radar, du verhältst dich einfach zu komisch. So kenne ich meine beste Freundin nicht. Also...wenn irgendetwas ist und du endlich deinen Mund aufkriegst, rede mit mir."
Bevor ich auf seine Worte reagieren kann, nehme ich ein Tuten wahr. Fassungslos starre ich das Display an. Er hat einfach aufgelegt!

Unsicher beobachte ich die Leute, die sich außer mir am Bahnhof befinden. Ein alter Mann mit zerschlissener Kleidung liegt auf einer Bank, unter der ein paar Bierflaschen stehen. Eine Frau zieht ein jammerndes Kind hinter sich her. Ein paar Schüler stellen ihre Ranzen auf den Boden, um ihr Geld herauszukramen. Missmutig kicke ich einen Kiesel gegen das kleine, gläserne Wartehäuschen, dessen Sitze schon längst unbrauchbar sind. Zwei Mal habe ich Leon heute schon angelogen. Damit werde ich nicht durchkommen.

Plötzlich tippt mich jemand von hinten an. Eschrocken fahre ich herum, nur um in ein hübsches Gesicht zu starren. "Elani, was machst du denn hier?", frage ich und versuche meine Stimme nicht zu ängstlich klingen zu lassen. Ein melodisches und ziemlich ansteckendes Lachen ertönt. "Ich bin hier jeden Tag. Drei Haltestellen weiter ist unsere Wohnung", meint sie. 
Hätte ich mir denken können. Fast jeder an unserer Schule wohnt auf der "anderen Seite des Flusses", da alles andere zu teuer wäre.
Während ich ihre Aussage mit einem knappen Nicken quittiere, beobachte ich, wie die Bahn anhält und ein paar Leute aus ihr strömen. Schweigend steigen wir ein und setzen uns nebeneinander.
Ich weiß nicht so Recht, was ich sagen soll.
 Wir hatten zwar nie Streit, jedoch waren wir auch nie in der gleichen Klasse oder im gleichen Freundeskreis, weswegen ich nicht viel über sie weiß. Dass Leon Hals über Kopf in sie verliebt ist, macht die Situation auch nicht besser.
Fast schon erleichtert atme ich auf, als sie sich an der nächsten Haltestelle von mir verabschiedet und winkend aussteigt.
Jedoch habe ich mich zu früh gefreut, denn ihre Anwesenheit hat meine anderen Gedanken ferngehalten. Gedanken, die jetzt blitzartig durch meinen Kopf zucken. Zu viele auf einmal, so schnell, dass ich mich auf keinen einzigen konzentrieren kann.
Als die Ansage "Industriegebiet" ertönt, drücke ich energisch den "Stopp"- Knopf, woraufhin meine Gedanken erstaunlicherweise kurz verstummen.
Schnell schiebe ich die Uhr unter meinen Ärmel, ich will sie heute nicht mehr sehen. Es hat mich schon genug Überwindung gekostet, sie überhaupt wieder anzuziehen und ich will nicht nochmal von meinen Gedanken überfordert werden. Blöderweise muss ich Koordinaten von der Uhr empfangen, weswegen ich gezwungen bin, noch einen Blick auf sie zu werfen, bevor ich durch die zischende Tür auf den dreckigen Bahnsteig hüpfe. Missmutig mustere ich die herumliegenden Zigarettenschachteln, die Taschentücher und die Kaugummis, die den ganzen Boden zukleben. In der Ferne höre ich den Tarne rauschen.
Pünktlich um drei Uhr erscheint das "Willkommen in Level zwei" und die nächste Aufgabe auf meiner Uhr.

Spiel oder StirbWhere stories live. Discover now