17/ Lynn

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Unsicher lasse ich mir die Haare ins Gesicht fallen und vergrabe meine Hände in den Hosentaschen, damit niemand den Dreck unter meinen Fingernägeln erkennen kann. Die Kratzer an meinen Armen stechen jedoch umso deutlicher hervor, zeigen jedem: Mit der stimmt etwas nicht, komm ihr besser nicht zu nahe. 

Dabei könnten Elody, Luke und ich echt Hilfe gebrauchen. Die paar Cents, die wir in unseren Jackentaschen finden konnten, bringen uns gerade so bis zur anderen Seite des Tarnes. Die einzige Wohnung, die wir erreichen könnten, wäre meine. 
Diese Worte sind kurz davor, meinen Mund zu verlassen, jedoch hält mich immer wieder ein schlechtes Gefühl zurück: Was, wenn Elody die Gurte abgeschnitten und dann auf Luke gewartet, die Unschuldige gespielt hat? Oder er irgendetwas damit zu tun hat? Und selbst wenn nicht, was würden die beiden mit meiner Adresse anfangen? Schließlich sind wir immer noch Gegner!
Meine Finger streichen vorsichtig über meine Arme, ertasten kleine Erhebungen, die teilweise noch leicht feucht sind. Langsam schiebe ich den Ärmel meines T-Shirts etwas nach oben, betrachte die roten Striemen. 
Auch meine Beine brennen von den Dornenbüschen, deren Zweige sich uns auf dem Weg zur Bushaltestelle in unsere Haut gebohrt haben, doch am schlimmsten ist mein Knöchel: Manchmal lässt der Schmerz kurz nach, nur um dann mit solcher Wucht zurückzukehren, dass ich das Gefühl habe, mich übergeben zu müssen.

Mein Blick wandert über die kleine gepflasterte Ausbuchtung an der Straßenseite und dem leicht verbogenen Schild, dessen "H" hinter dem Dreck und Staub kaum lesbar ist. Außer uns steht hier niemand, alle Leute sind hastig weitergegangen, als sie uns gesehen haben. In diesem Viertel sollte man sich von Ärger fernhalten.

Elodys und Lukes Diskussion - besser gesagt Elodys Monolog, da Luke nicht sonderlich oft genug Selbstbewusstsein aufbringt, um ein Gegenargument zu bringen - scheint wie im Hintergrund abzulaufen, ich höre ihre Sätze zwar, kann jedoch aus ihnen nichts entnehmen. Es ist, als würden sie eine andere Sprache sprechen. Plötzlich sticht mein Knöchel, fühlt sich an, als würde er innerlich zerrissen werden. Ein lautes Stöhnen entweicht mir, als sich der Schmerz in meinem ganzen Bein auszubreiten scheint. Ich winde mich, habe das Verlangen, meine Schuhe von den Füßen zu reißen. "Lynn? Was ist los?", dringt Lukes besorgte Stimme zu mir durch. Ich beiße meine Zähne zusammen und winke schnell ab. Kurz hole ich Luft und stoße dann hervor: "Meine Wohnung ist in der Nähe. Wenn wir zusammenlegen können wir sie erreichen und ich kann euch dort Geld geben." Ihre Blicke scheinen nicht sonderlich überzeugt, also ergänze ich: "Wenn wir jetzt schwarzfahren und erwischt werden, ziehen wir unnötig viel Aufmerksamkeit auf uns." Außerdem brauche ich dringend Verbandszeug. Durch meine Mutter, die als Krankenschwester viel Wert auf Erste-Hilfe-Kenntnisse legt, weiß ich, dass jede falsche Bewegung alles noch viel schlimmer machen könnte. 

Aus dem Augenwinkel nehme ich einen Schatten wahr. Mein Kopf dreht sich nach links, wo ich einen recht neuen Bus anfahren sehe. Die Anzeige flackert kurz, bevor eine 62 erscheint. Das wäre die richtige Linie. Ohne darüber nachzudenken humple ich in Richtung Bordsteinkante. Der Schmerz ebbt langsam ab, auch wenn ich bei jedem Schritt ein leichtes Ziehen verspüre. Plötzlich spüre ich, wie mein Arm sanft ergriffen und um eine Schulter gelegt wird. Seufzend blickt mich Luke von der Seite an. "Wenn du uns schon helfen willst, nimm  wenigstens selbst auch ein bisschen Hilfe an."
Während sich die Türen des Busses langsam öffnen und wir das missmutige, bärtige Gesicht des eher älteren Busfahrers erkennen können, schließt auch Elody zu uns auf. 

Es tut furchtbar gut sich auf den Sitz sinken lassen zu können und die Beine hochzulegen, jedoch kehrt gleichzeitig auch das dumpfe Pochen in meinem Knöchel zurück. Genervt versuche ich es zu ignorieren, während ich beobachte, wie der Busfahrer gemächlich drei Tickets an Luke aushändigt. 
Während sich die Türen quietschend schließen, fährt der Bus mit einem Ruck an, wodurch Luke und Elody halb auf mich drauffallen. Autsch. Mit schmerzverzerrten Gesicht ziehe ich die Luft zwischen den Zähnen ein und versuche die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. "Oh Mist, tut mir leid", murmelt Luke und setzt sich peinlich berührt neben mich, während Elody sich umdreht und den Busfahrer wütend anfunkelt. Dieser fährt jedoch einfach nur stumm weiter und dreht sein Radio etwas lauter, sodass die vordere Hälfte des Busses von einem "Take on me, take me on" beschallt wird. Dieses Lied lässt mich unwillkürlich an Nelly denken. Sie liebt es einfach abgöttisch, auch wenn es lange vor ihrer Geburt aufgenommen wurde und sie den Text nicht versteht.
Nelly. Zum Glück ist wenigstens sie nicht da, wenn ich die anderen zu unserer Wohnung bringe, da sie noch im Kindergarten sein müsste, schließlich habe ich sie noch nicht abgeholt. Mama hat heute -wie eigentlich jeden Montag- nachmittags im Krankenhaus Schicht, somit habe ich sturmfrei. Dass die anderen wissen, wo meine Wohnung liegt, werde ich jedoch kaum vermeiden können: Die Bahnstation liegt direkt vor dem hässlichen mehrstöckigen Gebäude, dass durch seine schmalen Seiten wie ein übergroßer betongrauer Dominostein mit kleinen Fenstern aussieht. Ich könnte niemals unauffällig darin verschwinden. Ich werde sie wohl oder übel im Eingangsbereich warten lassen müssen. 

 Der leise Motor durchbricht als einziger brummend die Stille zwischen Elody, Luke und mir. Unsere Körper werden ruckelnd hin und hergerissen, ab und zu ertönt eine nervige Stimme, die uns die Haltestellen ansagt. Der Bus hält jedes mal kurz darauf mit einem Zischen.
In meinem Kopf versuche ich auszurechnen, wie viele Wohnungen es insgesamt in unserem Gebäude gibt. Pro Stock meistens drei, im ersten durch den Eingangsbereich jedoch nur eine, genauso wie im letzten, da dort oben ein kleiner Abstellraum ist. Oh, und die Wohnungen von Stock 5 bis 7 sind größer, weswegen es dort nur zwei pro Etage gibt. Dreizehn Stockwerke, das bedeutet...32 Wohnungen. Das ist nicht viel, Elody und Luke könnten mich ohne Probleme finden. Besonders da es letztes Jahr in den unteren Stockwerken einen Wasserschaden gab, viele ausgezogen sind und leerstehende Wohnungen zurückgelassen haben. 20 Wohnungen werden aktuell benutzt. 25 höchstens. Wenn mich einer von den beiden wirklich finden wollen würde, dann hätte er es nicht sonderlich schwer.

Ich lehne meinen Kopf beunruhigt an die Scheibe, sehe zu, wie die Häuser an uns vorbeiziehen. Wenn ich meinen Blick etwas senke, kann ich durch die Seitenfester der vorbeifahrenden Autos blicken.
Leute in Anzügen, Pärchen, ab und zu Familien.
Wieder Geschäftsleute. Eine Familie. Ein Mann mit sorgsam gestutzem Bart und konzentrierten Blick.
Sie sehen so normal aus, gelangweilt.

Das wäre ich jetzt auch gerne. Gelangweilt vom Alltag, missmutig, weil ich Nelly vom Kindergarten abholen muss und noch zu viele Hausaufgaben aufhabe. Leider sieht die Realität anders aus: Ich habe mit hoher Wahrscheinlichkeit einen verstauchten Knöchel, muss überlegen, wie ich zwei Gegnern helfen kann, ohne zu viel von mir preis zu geben und habe keine Ahnung, wie ich es mit meinen Verletzungen zum Kindergarten schaffen soll.

Anscheinend hat Luke meine Unsicherheit bemerkt, denn er blickt mich besorgt an. Ich kann an seinen Gesichtszügen erkennen, dass er mit sich ringt: Er will etwas sagen, traut sich jedoch nicht. Schnell weicht er meinem Blick aus und schaut vorsichtig zu Elody. Diese sitzt mit verschränkten Armen da, ihre Schuhspitzen tippen ungeduldig auf den Boden, während ihr Blick immer wieder auf ihre Uhr wandert. Irgendetwas tief in mir sagt mir, dass das mein Misstrauen wecken sollte. Warum ist sie so unruhig? Ich werde nicht erfahren, wo sie wohnt, sie ist also in einer nicht allzu riskanten Situation...es sei denn, sie hat etwas mit dem Spiel zu tun.
Das Spiel.


 Mark.

So gut ich ihn bis jetzt auch verdrängen konnte, nun kehrt der Gedanke an ihn so plötzlich und mit solch einer Wucht zurück, dass mir kurz die Luft zum Atmen bleibt. Wie konnte ich ihn auch nur für einen Augenblick vergessen? Er ist tot, ist tot und wird es auch bleiben. Ich weiß es einfach. Ich hab seine kühle Haut unter meinen Fingern gespürt, meine Lippen auf seine blutigen gepresst. Die Übelkeit kehrt zurück, doch diesmal nicht aufgrund meiner Schmerzen. Er war tot, leblos und ich war ihm so nahe, habe ihn berührt. Meine Hände fangen an zu zittern, als diese Information richtig zu mir durchdringt, ich habe plötzlich das Gefühl, als würde der Tod an meinen Handflächen kleben. Hastig wische ich sie mir an der Hose ab, setze mich aufrechter hin, während sich ein Kloß in meiner Kehle bildet. Dadurch, dass wir vor den Sanitätern flüchten mussten war ich so abgelenkt, dass ich das Erlebte verdrängen konnte, doch langsam ist da keine Aufregung, Angst, kein Adrenalin mehr in meinen Körper. Stattdessen habe ich nur das Verlangen zu duschen, dieses unangenehme Gefühl von meiner Haut zu schrubben, einzuschlafen und nie mehr aufzuwachen.
 Zittrig atme ich ein und aus, während der Kloß in meiner Kehle noch größer wird.
Bevor die anderen etwas bemerken, starre ich konzentriert aus dem Fenster, so als gäbe es nichts wichtigeres als die vorbeiziehenden Häuser.

***

Eine Stimme ertönt aus dem kleinen Lautsprecher, sorgt dafür, dass ich heftig zusammenzucke: "Innenstadt, Bahnhofsstraße". Kurz darauf hält der Bus an und ich richte mich auf. Da ich so in Gedanken versunken war, habe ich kaum gemerkt, wie voll es im Gang geworden ist. Hinter den anderen zwänge ich mich zwischen ein paar Fahrgästen hindurch und steige humpelnd aus. Sofort sind wir dem Lärm der Stadt ausgesetzt. Hinter uns schließen sich die Türen mit einem Zischen.
Unsicher bleiben wir stehen, starren den Straßenverkehr an, als könnte er uns irgendwie helfen.

Mit dem Gedanken, dass die anderen beiden meine Adresse kennen werden, habe ich mich bereits angefreundet, da es viel scherwiegendere Dinge gibt, die nun rastlos in meinem Kopf herumschwirren: Wie geht es jetzt weiter? Werden noch mehr von uns sterben?

Ich gebe mir einen Ruck und laufe endlich los, um die Gedanken abzuschütteln. Doch ich weiß: Vor diesem Problem werde ich nicht wegrennen können, das hat Marks Schicksal heute nur zu gut bewiesen.
Das Spiel bekommt was es will.
Selbst wenn es mein Leben ist.

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⏰ Last updated: Oct 09, 2020 ⏰

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